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Nur tauchen, reisen, schreiben, Teil I

Nur tauchen, reisen, schreiben, Teil II

Ein Helmtaucher
erzählt

Mit selbstgebauten Schwimmflossen, Tauchgeräten und Kameragehäusen

Mein erstes Wort war Pinguin

Tauchen im Eismeer

Hans Hass - Erster in allen Meeren

Schwerelose Zeiten - Tauchererinnerungen

Hinab in die Vergangenheit

 

Nur tauchen, reisen, schreiben - Mein abenteuerlichstes Jahrzehnt, Teil II

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Erinnerungen, Dokumente, Reiseberichte.

Erstauflage/Edition 2015, 188 Seiten DIN A4 mit mehr als rund 500 Fotos. Softcover mit farbigem Einband. ISBN 978-3-937522-43-2, gebundener Ladenpreis € 17,80

Die 80er Jahre sind Norbert G.s abenteuerlichstes Jahrzehnt. Der Weg aus der Enge der DDR hinaus in die Welt beginnt im Teil I mit einem kurzen Rückblick und endet 1983 auf den spanischen Mittelmeerinseln Ibiza und Formentera. In den Jahren danach, nun im Teil II, folgen Reisen nach Zürich, große Trabbi-Touren durch Norwegen und Schottland, ein zweimonatiger Aufenthalt auf den Malediven und „Abenteuer am Roten Meer“. Dazwischen liegen weitere Buchprojekte, Szenen aus dem Alltag eines „freischaffenden Tauchers“ und der Weg zu seiner Vortragstechnik namens „Dia-Ton-Bericht in Überblendprojektion mit 6x6-cm-Farbdias und Hi-Fi-Stereoton“, einschließlich der Zulassung Nr. 02 des Berliner Stadtrats für Kultur mit der höchsten Einstufung. Sie berechtigte, „Bild-Ton-Vorträge gegen Honorar zu halten“! G.s abenteuerlichstes Jahrzehnt endet in dem für uns Ostler schicksalshaften Wendejahr 1989 mit einer Griechenland­Rundreise und dem sich abzeichnenden Ende der DDR.

Die einzelnen Kapitel
Neue Reisepläne und ein neues Buch / 2. Zürich und ein wenig mehr / 3. Tauchabenteuer Norwegen / 4. Zwischenspiel - Texte und Tonbildvorträge / 5. Airport Karatschi und Sri Lanka / 6. Unter den Riffhaien der Malediven / 7. Das Jahr ohne Tauchen und Reisen / 8. Meine Schottlandrallye / 9. Abenteuer am Roten Meer / 10. Rund um Griechenland und zurück / 11. Nachbemerkungen oder Ende und Wende / 12. Das Verlagsprogramm

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Und falls Sie noch interessiert sind, hier ein Kapitel aus Teil I:

Auf Ibiza und Formentera

Meine vorjährige Sardinienreise wurde genehmigt. Sie lief ab ohne Zwischenfälle, die meine „Akten“ belasten könnten. Akten in Verlagen, Kulturministerium, Polizei, Staatssicherheit und was weiß ich, wo die nach jeder Reise angeforderten Berichte in achtfacher Ausfertigung landen. Meine Reisezukunft sieht vielleicht gar nicht mehr so schlecht aus. Denke ich. Vielleicht einmal im Jahr irgendwo hin, das wäre etwas? Ich brauche nur einen plausiblen Vorwand, um wieder eine „Dienstreise“  beantragen zu können.

Das Manuskript zu „Tauchen im Mittelmeer“ (erscheint dann aber erst 1986 unter dem Titel "Begenung mit Korsika"!) liefere ich vertragsgemäß im Herbst 1982 ab. Nun würde der Gutachterdurchlauf folgen, die Bildauswahl, Lektorierung, das Titelannahmeverfahren usw. Ich ahne, dass die Herstellung kaum vor Ende nächsten Jahres beginnt. Eine Rücksprache mit der zuständigen Lektorin bestätigt es, aber auch, dass weiteres ergänzendes Bildmaterial durchaus von Interesse sei. Das Buch könne nur gewinnen. Und schon steht für mich fest: ich muss noch einmal zum Tauchen an das Mittelmeer!

Und wie ist  möglichst viel aus einer solchen Reise machen? Logisch, die Tour muss mit dem PKW realisierbar sein und zumindest dahin führen, wo ich nicht war. Nachdenkliche Betrachtung der großen Weltkarte an der Arbeitszimmerwand. Aber klar: Spanien! Blättern in den letzten Jahrgängen  der auf allerlei verschlungenen Wegen erworbenen Westtauchsportzeitschriften. Den 1980 mitgebrachten Shell-Atlas heraus, Bleistift, Papier und mögliche Reisewege ausgetüftelt.

Zu meiner Tante nach Buxtehude logisch. Lässt sich mit dem Argument „Geld abholen“ begründen. Dann läge Hamburg (Redaktion Tauchen, Reeperbahn) und Kiel (Fa. Poseidon, Tauchfreund Peter T.) an der Strecke! Weiter nach Frankfurt (Cousin Rolf und seine Möglichkeiten). Und Paris möchte ich noch einmal wiedersehen. Von da aus könnte ich an die französische Atlantikküste, um an dieser entlang (Bretagne, aber wohl zu weit nördlich?) nach Spanien einzureisen. Und irgendwie klingelt mir auch der Name Biarritz in den Ohren. Dann über die Pyrenäen, Burgos und durch Madrid. Keine Chance, das sonst zu sehen. Einmal wenigstens in den großen europäischen Hauptstädten gewesen zu sein, gehört doch eigentlich zur Allgemeinbildung! Dann endlich ans Mittelmeer, bei València auf die Fähre und hinüber zu den Baleareninseln Ibiza und Formentera. Die liegen zwar 700 Kilometer westlich Korsikas, aber immerhin Mittelmeer mit fast der gleichen UW-Fauna und Flora. Und Ibiza zog bereits in den 80er Jahren allerlei Paradiesvögel in seinen Bann. Außerdem betreibt dort Peter Alexander Reiserer eine Tauchbasis. Und von ihm hatte ich schon viel gelesen.

Retour natürlich auf anderen Wegen. Generell gilt: Kein Problem, bereits gesehene Regionen erneut zu durchstreifen. Aber dabei immer beachten, dass auch Neues, zuvor nie Geschautes mit auf der Route liegt! Und wenn man mit viel Glück wenigstens einmal im Jahr die Chance zu Westreisen bekäme, wie viel mehr dann der moralische Druck auch zum Sightseeing? Kein Ostler käme je auf die Idee zu denken: na dann, bis zum nächsten Jahr auf Ibiza. Wenn er nicht aus der DDR flüchtete, käme er normalerweise überhaupt nie nach Ibiza!

Zurück dann an der Mittelmeerküste entlang mit einem Abstecher an die Costa Brava (Taucherhochburg und viel beschrieben) und dann nach Frankreich hinüber. Hier ein Zwischenstopp in Banyuls-sur-Mer, einem Ort, von dem in der Geschichte des Tauchens seit Louis Boutans erster Unterwasserfotografie 1895 immer wieder mal zu lesen ist. Dann wie 1980 im Rhônetal parallel zur Autobahn hinauf nach Norden, über den Rhein nach Westdeutschland - Karlsruhe (Bruker-Physik/Tauchfahrzeuge) - Frankfurt. Die Gesamtfahrstrecke würde ich mit 6000 Kilometer angeben, sicher eher zu wenig, aber für Aktenleser nicht unreal klingend.     nach oben

 

Der dem Dauerbrandofentod entgangene aktenkundig dokumentierte Weg nach Spanien beginnt mit einem Brief an P. A. Reiserer:

Berlin, 20. Januar 1983 / An: Peter Alexander Reiserer

Erlauben Sie mir, mich unbekannter Weise und überdies mit einer ungewöhnlichen Bitte an Sie zu wenden. Ich bin 41 Jahre alt und arbeite freischaffend vor allem als Sachbuchautor mit der Spezialisierung auf maritime Themen. Bisher erschienen von mir drei Bücher: ein Kinderlexikon über das Meer, ein Checklistenbuch für Sporttaucher und eine Typensammlung nichtmilitärischer Tauchfahrzeuge. Zwei weitere Bücher sind vereinbart und die Manuskripte geschrieben: eine Geschichte der Tauchfahrzeuge und ein Bildband mit 170 Farbabbildungen und dem Arbeitstitel „Tauchen im Mittelmeer“. 1980 war ich unter anderem auf Korsika und 1982 auf Einladung des Präsidenten des Westberliner Landestauchverbandes Manfred Morzuch auf Sardinien.

Um noch Unterwasserfotos anzufertigen und weitere Reiseeindrücke zusammeln, wollte ich im September/Oktober 1983 Ibiza und Formentera besuchen. Die Finanzierung würde meine bei Hamburg lebende Tante übernehmen. Ein großes Plus für die Genehmigung meines Vorhabens wäre eine Einladung. Dies nun ist meine Bitte. Können Sie mir freundlicherweise ein Schreiben mit etwa folgendem Inhalt zukommen lassen: Einladung zu einem dreiwöchigen Aufenthalt auf ihrer Tauchbasis Ende September bis Mitte Oktober 1983. Die Unterbringung, Betreuung und Begleitung zu Tauchausfahrten wäre eingeplant. Eine Unterstützung bei Fotoarbeiten sei möglich, da sie (wie ich aus Veröffentlichungen westdeutscher Tauchzeitschriften weiß) selbst fotografieren und auch entsprechende Fototechnik auf der Basis besäßen.

Befürchten Sie bitte nicht, sich da einen Schnorrer auf den Hals zu laden. Natürlich bringe ich meine eigene Ausrüstung mit. Meine Tante wird mich dagegen in die Lage versetzen, Essen Unterkunft und Tauchfahrten zu bezahlen. Freilich müsste ich schon ein sehr billiges Zimmerchen in Anspruch nehmen oder besser noch - wenn möglich - mir ein Plätzchen für mein winziges Zelt suchen.

Ich bitte Sie sehr dringend, mir freundlicherweise und recht bald diesen Wunsch zu erfüllen. Sie können sich gewiss vorstellen, wie sehr mir das Zustandekommen dieser Reise am Herzen liegt.

 

Ibiza, 11. Februar 1983 / Von: Peter  Alexander Reiserer

Ich danke Ihnen für Ihren Brief vom 20. Januar 83. Aufgrund Ihres Briefes möchte ich Sie im September/Oktober 83 zu einem Besuch auf Ibiza einladen. Es würde mich freuen, wenn Sie meine Einladung annehmen würden. Ich glaube, dass gerade Ibiza Ihnen eine breite Palette der Mittelmeerfauna und Flora bieten kann, um Ihr geplantes Buch zu vervollständigen. Es wird mir ein Vergnügen sein, für Ihren Aufenthalt auf Ibiza Sorge zu tragen.

Bitte, bringen Sie jedoch neben Ihrer Kameraausrüstung auch Ihr Logbuch und ein ärztliches Zeugnis mit, da dies für das Tauchen in Spanien obligatorisch ist. In der Hoffnung, Sie im Herbst zu ein paar Tauchgängen und zu einem Interessenaustausch begrüßen zu können grüße ich Sie

Ihr Peter Alexander Reiserer     nach oben

 

Berlin, 24. April 1983 / An: Ministerium für Kultur, Reiseantrag

Ausreisegenehmigung BRD / Frankreich / Spanien

Hiermit bitte ich um die Genehmigung zu einer einmaligen Ausreise mit dem KFZ für die Zeit vom 29. August bis zum 12 Oktober 1983. Die Reisestationen sind Buxtehude - Frankfurt - Paris - Madrid- die spanischen Mittelmeerinseln Ibiza und Formentera - Banyuls-sur-Mer - Karlsruhe - Frankfurt. Gesamtfahrstrecke knapp 6 000 km.

Ich arbeite seit 1973 freischaffend vor allem als Sachbuchautor mit der Spezialisierung auf Themen der Unterwasserwelt, tauche und fotografiere seit 25 Jahren. Bisher erschienen drei meiner Bücher. Gegenwärtig arbeite ich vertragsgebunden an einem Farbbildband „Tauchen im Mittelmeer“ (VEB Brockhaus) und an einer „Geschichte der zivilen Tauchfahrzeuge“ (VEB Transpress). Die Hauptaufgaben der Reise sind

1. Anfertigung von UW-Fotos im Mittelmeer (Austauschbilder für den Bildband, Bildmaterial für Beiträge in den Urania-Jahrbüchern, einen Kalender und eventuell Vorträge im Rahmen der Urania über die Tierwelt des westlichen Mittelmeeres)

2. Besuch der auf Forschungen im Mittelmeer spezialisierten meeresbiologischen Station in Banyuls-sur-Mer und ihrer Aquarien.

3. Konsultation der zivile Tauchfahrzeuge bauenden Firma Bruker-Meerestechnik zur Überarbeitung und Aktualisierung des Manuskripts zur Geschichte der unbewaffneten Tauchfahrzeuge.

4. Besuch der Frankfurter Buchmesse und Gespräche mit Verlegern über mögliche Projekte von Fachliteratur für Sporttaucher.

Als wichtigstes Reiseziel wurden die spanischen Mittelmeerinseln (Balearen) gewählt. Dadurch könnte ich zusätzlich Reiseeindrücke und Informationen für eine im Entstehen befindliche Prosaarbeit (eine literarische Reisebeschreibung „Meine Reisen ans Mittelmeer“) gewinnen, aus der ich bereits zwei Auszüge publizieren konnte. Die Tauchabstiege sollen in Zusammenarbeit mit ortsansässigen kommerziellen Tauchbasen erfolgen. Die Einladung einer spanischen Basis für den beantragten Zeitraum liegt vor.

Ich bitte sehr, mir wieder die Mitnahme meines PKWs (Trabant-Universal IM 22-59) zu gestatten. Die Reise wird dadurch bequemer, effektiver (da sonst viele Teile der schweren Taucher- und Mittelformat-Fotoausrüstung zu Hause bleiben müssten) und billiger. Notfalls reise ich mit der Bahn.

Die finanziellen Mittel für die Reise stellt meine in Buxtehude lebende Tante und ein Cousin meiner Frau aus Frankfurt/M. zur Verfügung. Ich benötige keine Devisen aus Mitteln von DDR-Institutionen.

 

Berlin, 11. Mai 1983 / Von: Ministerium für Kultur

In Erledigung ihres Schreibens vom 20.4.83 teilen wir mit, dass wir bereit sind, die erforderlichen Reiseformalitäten für die von Ihnen geplante Ausreise in der Zeit vom 29.8. bis 12.10.83 in die BRD, nach Frankreich und nach Spanien zu erledigen. Wir überreichen Ihnen anliegend die erforderlichen Formulare mit der Bitte, diese umgehend ausgefüllt an uns einzureichen.

Für die Ausfüllung der Länderpapiere Frankreich und Spanien noch einige Hinweise: Die Ausfüllung der Fragebogen (7 Fragebogen und 7 Lichtbilder aufgeklebt) hat EDV-gerecht und in französischer Sprache zu erfolgen. Es dürfen keine Streichungen, keine Ausbesserungen vorgenommen werden und es darf nicht radiert werden ...

Die Ausfüllung der Länderpapiere für Spanien erfolgt in deutscher Sprache. Die Fragen 12 und 14 sind mit „ja“, die Fragen 13 und 15 mit „Unbefristet“ zu beantworten. Bitte 3 Fotos im Format 3x4 cm aufkleben. Sobald uns die erforderlichen Unterlagen vorliegen, werden wir die Reiseformalitäten einleiten.     nach oben

 

Berlin, 17. Mai 1983 / An: Brockhaus Verlag

Eigentlich hatte ich gehofft, Ende März/Anfang April im Verlag vorsprechen zu können: a) wegen der Überarbeitung meines Manuskripts „Tauchen vor Korsika“ und b), um eine abermalige Befürwortung zu einer Reise ans Mittelmeer zu erbitten. Als der Spielraum für die Abgabe der Reiseunterlagen immer enger wurde und da ich auch nicht wusste, ob das Kulturministerium diese Reise überhaupt befürwortete, reichte ich schließlich Ende April die Anträge ein. Die Kopien beider Schreiben, aus denen Sie Reisegründe und Reiseroute entnehmen können, sind als Anlage beigefügt.

Am 17. April erhielt ich die positive Antwort des Kulturministeriums nebst Länderpapieren und Antragsformularen. Als ersten Schritt, schon im Januar, hatte ich mir die Zusage meiner Tante zur Finanzierung der Reise eingeholt sowie die Bereitschaftserklärung einer renommierten spanischen Tauchbasis zur Betreuung meiner Tauchabstiege und Unterwasser-Fotovorhaben. Eine Abschrift dieser Einladung liegt ebenfalls bei.

Nun möchte ich wieder um eine Befürwortung bitten. Es genügt ein einfaches Schreiben, dass Sie gleich direkt an das Kulturministerium, HV Verlage und Buchhandel, 1080 Berlin, Clara-Zetkin-Str., Sektor Auslandsarbeit, adressieren möchten. Es erreicht so schneller den Empfänger. Ich versichere, dass aus der Befürwortung für den Brockhaus Verlag keinerlei Verbindlichkeiten noch irgendwelche Probleme entstehen werden. Ich unternehme diese Reise als Freischaffender in eigener Sache und Verantwortung. Ich vermute jedoch, dass sich dies letztlich (etwa durch weitere Reiseerfahrungen, mehr Kenntnisse über die Unterwasserwelt und eine größere Bildauswahl; auch für spätere Projekte) auch positiv auf meine Arbeit für Ihren Verlag auswirkt.

 

Leipzig, 20. Mai 1983 / Von: Brockhaus Verlag / An: Ministerium für Kultur

Wir bestätigen hiermit, dass Herr Norbert Gierschner, 1147 Berlin, Florastr. 32, 518-04, bei unserem Verlag unter Vertrag steht, um einen Textbildband unter dem Arbeitstitel „Tauchen im Mittelmeer“ zu realisieren. Seine bisher bekannt gewordenen Arbeiten zu diesem Thema berechtigen zu der Annahme, dass mit dem vorgesehenen Band die thematische Palette unseres Verlags in qualitätvoller Weise bereichert. Wir unterstützen deshalb seine Bemühungen, zum substanziellen Abrunden seines Materials eine weitere Reise in das betreffende Gebiet durchzuführen.     nach oben

 

Die Genehmigung kommt

Juhu und jubel, jubel. Ende Mai erreicht mich der erste Dämpfer. Das Kulturministerium teilt telefonisch mit, dass nach neuen Bestimmungen die Franzosen keine privaten Einreisen mit Personenkraftwagen mehr gestatten. Ade du Traum vom ungebundenen Vagabundieren und der Hoffnung auf einige wilde Tauchgänge am Wegesrand! Nun gut, tröste ich mich bald, dann wird eben geflogen. Wer weiß, was mir dadurch erspart bleibt. Ist ja auch viel sicherer, vermutlich billiger (denn den Flug bis Madrid gibt es bei der Aeroflot in Ostmark) und immer noch ungleich mehr als nichts.

 

Berlin, 24. Juni 1983 / An: Peter Alexander Reiserer

Es ist alles klar, die erforderlichen Befürwortungen liegen vor, der Antrag läuft. Wenn nicht noch ganz Unerwartetes eintritt (endgültige Gewissheit, also den Pass mit entsprechenden Stempeln, erhalte ich erst wenige Tage vor der Abreise), setze ich mich am 4. September ins Flugzeug, fahre von Madrid aus mit der Bahn nach València (mit einem Nacht- oder Frühzug), von dort aus um 23.45 Uhr mit der Fähre nach Ibiza. Ich nehme an, von Ibiza nach Portinatx fährt ein Bus; notfalls nehme ich ein Taxi. Ich werde also am 6. im Laufe des Vormittags bei Ihnen eintreffen.

Leider ist es mir auf Grund neuer französischer Reisebestimmungen nicht möglich, via Frankreich mit dem KFZ anzureisen. Das ist sehr schade, hätte es mir doch erlaubt, wesentlich mehr anzusehen, mitzubringen, herumzukommen, bequemer zu reisen. Egal. Auch so schon wird dies eine Reise, um die mich sicherlich fast alle Taucher in der DDR beneiden. Sie können sich bestimmt vorstellen, wie sehnlichst ich das Ende des Hochsommers erwarte; auch dank Ihrer Hilfe.

Da ich ohne Fahrzeug nun weniger mobil sein werde und mehr zu schleppen habe, stelle ich mir vor, mich bis Anfang Oktober in Portinatx als „Hauptquartier“ niederlassen zu wollen, um - neben der UW-Fotografie - von dort aus einige Exkursionen zu unternehmen. Ich plane, über den Ibiza-Aufenthalt einen Text an das Mittelmeerbuch anzuhängen. Die Hauptsache wären aber Fotos von einigen „UW-Viechern“.

Könnten Sie mir für diese Zeit eine preiswerte Unterkunft vorbestellen? Am besten wäre ein einfaches Privatzimmer. Ich bin nicht anspruchsvoll und Komfort ist zwar angenehm, aber auf Reisen entbehrlich. Freundliche Herbergsleute wären wichtiger. Für die Verpflegung würde ich selber sorgen. Oder wäre es ratsamer und wesentlich billiger, ein Zelt mitzubringen? Was müsste ich unbedingt an eigener Taucherausrüstung mitnehmen? Da die Über- und Unterwasserfotoausrüstung allein schon fast an die 20 Kilogramm wiegt, müsste ich mich mit den übrigen Sachen recht spartanisch versehen. Aber irgendwie wird es schon gehen.

Ich danke Ihnen noch einmal für Ihre freundlichen Zeilen und Ihre Hilfsbereitschaft und verbleibe in freudiger Erwartung und mit besten Grüßen     nach oben

 

Ibiza, 23. Juli 1983 / Von: Peter Alexander Reiserer

Auf Grund Ihres Briefes vom 24. Juni 83 habe ich Ihnen heute in einem kleinem Hotel, dem  Hostal Portinatx, nahe der Tauchschule für den 6. September ein Einzelzimmer reserviert. Der Zimmerpreis beträgt ohne Verpflegung 580 Peseten pro Tag, das ist billiger als auf den Zeltplatz zu gehen.

Von Ibiza aus können Sie um 10.15 oder um 12.15 den Bus nach Portinatx nehmen. Wenn Sie neben Ihrer Fotoausrüstung noch den eigenen Tauchanzug mitbringen wollen, macht das pro Tauchgang l0 % Rabatt aus.

Bitte schreiben Sie mir jedoch, falls Sie die Reise nicht antreten können, damit ich das Hotelzimmer stornieren kann. Normalerweise muss ich bei Reservation eine Anzahlung leisten. Bis bald

 

Berlin, 31. August 1983 / An: Peter Alexander Reiserer

Recht herzlichen Dank für Ihre freundlichen Zeilen vom 23.7.83. Heute habe ich definitiv erfahren, dass - bis auf das spanische Visum - meine Reise genehmigt ist, die erforderlichen Papiere vorliegen und mein Pass in der spanischen Botschaft zur Visumerteilung liegt. Leider wurde das aber so spät eingeleitet, dass der vorgesehene Reisetermin nicht mehr eingehalten werden kann. Auf keinen Fall schaffe ich es also am 6. Portinatx zu erreichen. Wenn ich Glück habe, komme ich am 13., wahrscheinlich aber erst am 20. September. Die Wochensprünge resultieren aus dem Umstand, dass die Aeroflot nur jeden Sonntag Madrid anfliegt.

Wie Sie sich sicher vorstellen können, bin ich dennoch sehr froh, dass alles noch zu klappen scheint - wenn eben auch verspätet und verkürzt. Mein Brief wird sicher nicht mehr rechtzeitig in Portinatx sein, um das Hotelzimmer zu stornieren. Ich komme natürlich für die dadurch entstanden Unkosten auf und bitte Sie, die neue Reservierung für die Zeit vom 20.9. bis etwa den 10. Oktober vornehmen zu lassen. Aus jetzigen Sicht müsste schon sehr viel schief laufen, wenn ich diese Termine nicht wahrnehmen könnte.

Es tut mir Leid, Ihnen zusätzliche Laufereien verursacht zu haben. Die Art der Unterbringung scheint mir angenehm. Ich danke Ihnen für alle bisherigen Mühen und verbringe die restlichen Tage bis zur Abreise mit Ungeduld und angenehmsten Erwartungen.     nach oben

 

Der zweite Dämpfer lässt nicht lange auf sich warten. Zunächst einmal storniere ich telegrafisch auch den Ankunftstermin 20. September, denn der Pass ist immer noch nicht fertig. Ich kann ihn mir endlich am Nachmittag des 23. Septembers abholen, einem Freitag. Wer denkt, nun geht es endlich am Sonntag los, der irrt! Wenige Wochen zuvor schoss die sowjetische Luftwaffe ein vom Kurs abgekommenes koreanisches Passagierflugzeug über Sachalin ab. Aus Protest verhängte die westliche Welt ein mehrwöchiges Landeverbot für Aeroflot. Fazit: Ich habe in der Tasche die Genehmigung zur Reise nach Spanien, den Pass, ein spanisches Visum, ein offenes Flugticket Berlin-Madrid und natürlich die gepackte Tasche. Na ja, eigentlich sind es drei. Im Pass ist als Grenzübergangsstelle Berlin-Schönefeld eingetragen. Ich darf nur dort ausreisen. Und von Schönefeld nach Madrid fliegt lediglich die Aeroflot, der aber ist es zur Zeit nicht erlaubt!

Von der Reisestelle des Kulturministeriums gehe ich gleich weiter zu dem großen Interflugbüro am Alex. Ich lege mein Ticket vor. Das Schalterfräulein bestätigt, was ich aus den Nachrichten weiß: ja, für Aeroflot besteht noch Landeverbot. „Ich muss aber nach Madrid“, jammere ich. „Das Ende der Reise steht fest und jeden Tag, den ich hier herumsitze, bedeutet einen Reisetag weniger.“

„Und wie wäre es mit einem Umweg?“ Sie hackt auf der Computertastatur herum und schlägt vor: „Mit der Interflug nach Budapest und von dort mit der Malev nach Madrid?“

„Geht das?“ „Klar doch, wenn was frei ist!“

Die Sonne scheint heller, alle Menschen sind netter und am Montag geht es los nach Budapest. Ich verdöse die Nacht in einem Flughafensessel und besteige am Dienstag die Maschine nach Madrid. Von hier aus geht alle zwei Stunden ein Flieger nach Ibiza. Die Lust auf Bahn und Fähre ist geschwunden, denn mein Gepäck ist viel zu unhandlich und schwer für große Streifzüge. Ich fische das geschmuggelte Westgeld aus einer der Filmbüchsen und tausche Peseten ein. Das Ticket ist gerade noch erschwinglich.     nach oben

 *  *  *

Die Balearen

Die Balearen - eine Inselgruppe im westlichen Mittelmeer - liegen etwa 100 bis 150 Kilometer vor der Südostküste Spaniens. Die wichtigsten Baleareninseln sind Mallorca, Ibiza, Menorca und Formentera. Die Balearen gelten als eine spanische Provinz. Ihre Hauptstadt liegt auf Mallorca und heißt Palma de Mallorca. Die Bevölkerung zählt ungefähr eine halbe Million Einwohner. Auf den Balearen herrscht ein subtropisches Klima mit nicht zu heißen Sommern und mit Wintern ohne Schal und Handschuhe. Niederschläge fallen auch in der kälteren Jahreszeit selten.

Die zweitgrößte Baleareninsel ist das etwa 20 Kilometer breite und maximal 41 Kilometer lange Ibiza. Es ähnelt in der Form ein wenig einem Parallelogramm. Die Oberfläche und Küstenlinie Ibizas ist ziemlich zerklüftet. Überall stehen in der Landschaft Berge in kleinen Gruppen herum. Bei ihrem Betrachten wird es einem kaum schwindlig. Selbst der höchste Berg ragt nur 475 Meter empor. Auf Ibiza leben ungefähr 45 000 Einwohner. Im Sommer bilden sie jedoch im Verhältnis zu den Touristen nur eine Minderheit. Im 9. Jahrhundert v. u. Z. entdeckten die Phönizier Ibiza als wichtige Handelsstützpunkt. 1918 wurde Ibiza ein zweites Mal entdeckt: von den Briten als idyllische Oase für den Fremdenverkehr.

Als am 27. September 1983 die Linienmaschine aus Madrid auf Ibiza ausrollt, ist dies eine ganz alltägliche Routinelandung. Auch für mich ist dabei nur ein einziger Umstand von Bedeutung, nämlich, dass ich mich selbst an Bord jener Maschine befinde. Diesen Besuch ermöglichte mir die glückliche Gelegenheit mediterrane Fauna und Flora für einen Bildband fotografieren zu dürfen sowie die „Einladung“ des auf Ibiza ansässigen UW-Fotografen Peter Alexander Reiserer. Ich verstaue meine üblichen 40 Kilogramm Gepäck in ein Taxi und nenne das Fahrziel: Portinatx, ein kleiner Ort ganz im Norden der Insel.

Portinatx war ehemals ein einsam gelegenes Fischerdorf. Es besitzt kaum mehr als zwei oder drei Dutzend Häuser. In der Landschaft verstreute Hotels, Pensionen und Restaurants beherrschen heute das Ortsbild. Doch das reizvolle hügelige Gelände, Pinienwälder und vor allem die Buchten mildern alle Kontraste. Ich finde eine preiswerte Unterkunft in einem schönen sauberen Hostal. Es ist fast leer, denn die Saison neigt sich dem Ende entgegen. Eine Woche später werde ich nur noch der einzige Gast sein...     nach oben

Boss, Basis und ein Tauchgang

Am südlichen Ende von Portinatx, unmittelbar an einer kleinen geschützten Bucht, stehen vier Bauwerke: eine Bar, zwei Hotelkomplexe und ein weißgestrichener Schuppen, die Tauchbasis von Peter Alexander Reiserer. Dieser 1935 in Bayern geborene UW-Fotograf lebt seit 1975 ganzjährig auf Ibiza, verleiht Taucherausrüstungen und fährt mit Sporttauchern zu etwa einem Dutzend Plätze vor Portinatx hinaus zum Tauchen. Ein Tauchgang - einschließlich gestellter Ausrüstung - kostet ungefähr 40 DM. Die Tauchsaison beginnt zu Ostern und endet im Oktober. Im Winter baut Peter an seinem neuen Haus, fotografiert, liest, versucht seinen vier Dackeln Ordnung beizubringen, überholt die Taucherausrüstungen - und wartet auf das Frühjahr und den erneuten Einfall der Touristen.

Peters Fotos - beeinflusst von seiner Vorliebe für Science-fiction-Bücher und -Filme - sind heute kaum noch mit den Arbeiten anderer UW-Fotografen zu verwechseln. Fast zwei Jahrzehnte lang hat er die typischen UW-Sujets wie Fische, Korallen und Weichtiere fotografiert, bis er das schließlich satt hatte. Gebunden an die Tauchbasis, äußerte Peter in einem Interview, musste ich daher etwas Neues suchen. Ich will Bilder nicht mehr nur ablichten, ich will Bilder komponieren. Mit Menschen kann ich komponieren, manipulieren und gestalten. Harmonie und Farbe als Gesetze der Bildmäßigkeit bleiben so keine Kinder des Zufalls mehr. Dabei möchte ich auch das kleinste Detail beeinflussen können. Jeder Tauchgang ist ein Abstecher in eine andere Welt. Eine wunderbare, aber menschenfeindliche Welt. Es gibt viele Parallelen zwischen Aquanauten und Astronauten. Ich zeige daher gern, sagte Peter, den Menschen unter Wasser als Besucher aus einer fremden Welt, voller Angst vor dem Neuen, Unbekannten; zugleich aber auch erfüllt von stiller staunender Andacht . . .

An fast jedem der nun folgenden Vormittage verstaue ich das über Nacht nachgeladene Blitzlichtgerät, Filme und eine Kamera in einem Beutel und laufe hinab zur Tauchbasis.

Kurz nach 10 Uhr öffnet Peter den Laden. Wir bereiten unsere Geräte für die Ausfahrt vor, prüfen den Luftdruck der Flaschen und schrauben die Atemregler fest. Ich habe überdies die UW-Kamera einsatzbereit herzurichten. An fast jedem Tag plage ich mich mit der Entscheidung, ob ich ein Weitwinkelobjektiv einbauen soll oder ein Normalobjektiv und Zwischenringe für einen festen Nahaufnahmeabstand. Und prompt ärgere ich mich bei fast jedem Tauchgang mindestens einmal, wieder die falsche Objektivkombination erwischt zu haben. Es ist doch völlig klar: große Fische wie etwa die schönen Meerraben, kommen erst dann aus ihren Verstecken, wenn sich Vorsätze für Nahaufnahmen winzigster Nacktschnecken in der UW-Kamera befinden - oder wenn der Film voll ist!

So gegen 11 Uhr klettern alle zahlenden Gäste und ein oder zwei Dackel ins Boot und Peter oder sein Assistent Rainer fahren mit uns hinaus zu einem der sieben oder acht Tauchplätze vor der Küste. Peter erteilt letzte Anordnungen. Dann stürzen wir uns alle hinab in die See.

Heute, nach einigen Dutzend Tauchgängen vor Korsika und Sardinien ist diese Welt mir schon leidlich vertraut. Es ist ja so leicht, sich an erfreuliche Dinge zu gewöhnen! Das Wasser ist mit etwa 24 Grad Celsius angenehm temperiert und von bläulich schimmernder Transparenz. Die Sichtweite beträgt etwa 20 Meter. Wir besuchen die „Blauen Löchern“, das sind kleine Höhlen von etwa 4 bis 4 Meter Durchmesser und einigen Metern Länge; tauchen vor Felsschluchten, die bis weit über 40 Meter Tiefe abfallen; erkunden das Wrack - es entpuppt sich als das Rettungsboot eines vor Portinatx havarierten polnischen Frachtschiffes und wir tauchen auch vor dem Leuchtturm und an der Einfahrt zur Bucht von Portinatx.    

So wie in der Ehe die Partner mit zunehmendem Alter sich einander immer ähnlicher werden, scheint auch mein Blick mit den Jahren etwas von der Betrachtungsweise des Kameraauges angenommen zu haben. Bin ich für Großaufnahmen eingerichtet, durchmustere ich die meiste Zeit forschend den an Flickenteppiche erinnernden farbigen Bewuchs auf den Felswänden in der Hoffnung auf eine von mir noch nicht fotografierte Tierart. Mein Blick schweift dann recht selten in die Ferne; meist nur zur Orientierung, um Sichtkontakt mit dem Partner aufzunehmen oder um ein Okay-Zeichen zu wechseln. Und natürlich auch, um einen scheelen Blick auf größere Fische zu werfen, die plötzlich eine fast unverschämte Vertrautheit an den Tag zu legen scheinen.     nach oben

Moostierchen

Bereits während der ersten Tauchgänge, etwa in Tiefen ab 20 Meter, fallen mir besonders kunstvoll geschwungene Gitterwerke in zartem Rosa auf. Es sind Sertellidae, Schleiermoostierchen. Ihr Durchmesser beträgt etwa sechs bis zehn Zentimeter. Die Moostierchen (Bryozoen) sind häufige Bewohner vieler Gewässer. Sie werden jedoch oft übersehen oder mit anderen Tiergruppen verwechselt. Die kästchenförmigen Einzeltiere, die so genannten Zoide, messen meist weniger als einen Millimeter. Sie bestehen aus einer kalkigen oder hornigen Kammer mit einem beweglichen Vorderkörper, einen Polypid. Durch die Aneinanderreihung von Kammern entstehen die sehr unterschiedlich geformten Moostierchenkolonien mit Ausdehnungen bis zu einem Meter. Sie wachsen zu flächigen Belägen heran, zu Stöcken, die Algen, Hornkorallen oder Hydrozoen ähneln, zu dicken Klumpen oder zu zarten netzförmigen Strukturen.

Die Moostierchen besitzen - im Gegensatz zu den einfacher gebauten Blumentierpolypen - ein Nervensystem, einen u-förmig gebogenen Verdauungstrakt und einen um die Mundöffnung stehenden Kranz bewimperter Tentakel. Die Tentakel können auch in den Hinterkörper (Cystid) zurückgezogen werden. Der unablässige Wimpernschlag erzeugt einen Wasserstrom, mit dem winzige Nahrungsteilchen eingestrudelt werden. Bei genauem Betrachten vieler größerer Moostierchenkolonien sind die wie ein transparenter Flor aus den Kammern ragenden Tentakel der Polypiden mit bloßem Auge gut zu erkennen. Manchmal fällt es umgeschulten Beobachtern aber auch schwer, Moostierchen von Schwämmen, Blumentieren oder Ascidienkolonien zu unterscheiden. Die Polypiden sterben in periodischen Abständen und werden durch im Innern neugebildete Polypiden ersetzt.

Die Erweiterung der Kolonien geschieht durch Knospung: eine Kammerwand dehnt sich röhrenförmig aus. Eine neue Scheidewand entsteht und trennt die Erweiterung zu einer separaten Kammer ab. Eine ihrer Kammerwände bildet durch Einstülpung nun den dazugehörigen Polypid. So wachsen die Moostierchen wabenartig aneinander gereiht linien- oder traubenförmig und bilden auch jene schönen Strukturen wie die an schwungvoll entfaltetem Tüll erinnernde Kolonien. Wenn sich ein Sporttaucher im Mittelmeer vergnügt die ausgekühlten Hände reibt: Ah, hier wachsen aber viele schöne Edelkorallen und gar nicht einmal so tief, nur ein Dutzend Meter - so sind dies gewöhnlich keine Korallen, sondern als Trug-, Falsche oder Hundskorallen bezeichnete Moostierchenkolonien.     nach oben

Die Kathedrale

Unter den verschiedenen Tauchplätzen, die Peter uns zeigt, ist am beeindruckendsten die so genannte Kathedrale, eine große und bis in 40 oder mehr Meter in die Tiefe führende Höhle, in die man von oben zunächst wie in einen Topf taucht, ehe sich der Schacht zu einem riesigen zerklüfteten Hohlraum mit Durchbrüchen zum freien Wasser hin weitet. Es kostet etwas Überwindung, in dieses schier bodenlose Loch hinab zu tauchen. An Land liefern uns nämlich die Tastsinne, etwa die Fußsohlen auf der Erde, die Augen und die Gleichgewichtsorgane, laufend Informationen über unsere Lage im Raum. Frei im Wasser schwebend, fallen die Tastreize und oft auch die horizontalen und vertikalen Linien zur optischen Orientierung weg. Es bleiben lediglich die Informationen der Nervenzellen im Innenohr für unsere Gleichgewichtsorientierung - nicht gerade viel in einer Welt, in der man nur mit technischen Hilfsmitteln überleben kann. Hinzu gesellt sich ein wenig die Sorge, man könnte in den Kessel hinabstürzen . . .  Wir stürzen natürlich nicht und mit der Landung auf einer ebenen Felsterrasse, etwas, auf das man sich niederlassen kann, wenn auch dieser Halt fast 30 Meter unterhalb der Oberfläche liegt, normalisiert sich rasch der Herzschlag.

Die „Kathedrale“ erinnert mit ihrer Weite und Stille, dem Dämmer und dem eigenartigen Lichteinfall tatsächlich ein wenig an die Atmosphäre in alten monumentalen Sakralbauten. Dazu passende Schmuckelemente in Rosa und leuchtendem Rot zieren den Raum: Rote Fahnenbarsche und Meerbarbenkönige. Die Farben sind allerdings nur im Licht der Handlampen erkennbar.

Ich sehe diese im Schatten und in Tiefen ab 10 Meter lebenden Tiere zum ersten Mal. Von dem bis zu 15 Zentimeter langen Meerbarbenkönig weiß ich, dass er zu den Kardinalsfischen gehört und wie die meisten Vertreter dieser Familie ein Maulbrüter ist. Die Männchen schlucken den Laich und behalten ihn etwa sechs Tage im Maul. Dann schlüpfen die Jungtiere und schwimmen eigene Wege. Der Name Fahnenbarsch bezieht sich auf das überdurchschnittlich lange Brustflossenpaar. In dem etwa 250 Kilometer nördlicher und 700 Kilometer östlicher liegenden Seegebiet zwischen Korsika und Sardinien habe ich diese Arten nicht gesehen. Auch an den vor Ibiza viel häufigeren farbenprächtigen Meerpfauen, einer aus den tropischen Warmwasserregionen des Atlantiks stammenden Lippfischart, spürt man die größere Nähe zu Afrika. Wie auch der Violette Seestern Ophidiaster, den ich ebenfalls hier vor Ibizas erstmals zu Gesicht und vor die Kamera bekomme, bevorzugen die Meerbarbenkönige und Fahnenbarsche die südlicheren Breiten des Mittelmeeres. Bald verlassen wir wieder das in der Kathedrale spürbar kältere Wasser und verbummeln die restliche Tauchzeit an Felsabstürzen und Überhängen in Tiefen um 20 Meter.

An jenen Tagen, an denen ich vormittags und nachmittags tauche, bleibt kaum Zeit für andere Dinge. Und ich tauche fast jeden Tag. So gegen 18 Uhr kehre ich in das Hostal zurück, dusche, verzehre gewöhnlich die spartanischste Mahlzeit, die Gäste dort sicher je aßen und versorge die Kameratechnik. Noch während ich dann über den Notizen grübele, fallen mir die Augen zu. So ähnlich wiederholen sich die Tage. Wer weiß, wie lange die See ruhig bleibt. Zöge Sturm auf, könnte ich immer noch die Gegend durchstreifen!     nach oben

Ausflüge

Erst als etwa 20 Filme belichtet sind, unternehme ich häufiger Ausflüge in die Umgebung von Portinatx und in die Hauptstadt. Die Gegend um Portinatx ist eine karge zerklüftete Karstlandschaft. Die Bauern mussten hier jeden Quadratmeter Boden mühsam den Berghängen entreißen und mit Steinmauern zu Terrassenkulturen herrichten. Die Gehöfte liegen einsam und weltabgeschieden. Die Bauernhäuser haben rein kubische Formen mit wenigen kleinen Öffnungen für Fenster und Türen. Sie sind stets außen und innen blendend weiß gekalkt und werden schon 600 Jahre lang in dem gleichen für Ibiza typischen Stil errichtet. Er erinnert an Einflüsse aus Afrika. Diese Gebäude pflegen stets allmählich zu wachsen, indem - entsprechend den Erfordernissen - nach und nach weitere würfelförmige Zimmer angebaut werden. Erst in den letzten Jahren entstehen zunehmend auch modische Bungalowformen.

Glücklicherweise besitzt Ibiza einen für Mittelmeerinseln ungewöhnlichen Reichtum an Grundwasser und fruchtbare Böden. Es gedeihen Mandel- und Johannisbrotbäume, Oliven, Feigen und Getreide. In bewässerten Regionen reifen auch Zitrusfrüchte, Erdbeeren und verschiedene Gemüse. Großflächige und mit modernster Landmaschinentechnik bestellte Flächen, quasi eine industrielle Pflanzenproduktion, gibt es kaum auf Ibiza. Südlich des Flughafens liegen die Salinen. Ihre Salzseen liefern jährlich hunderttausend Tonnen Meersalz. Sie waren schon zur Zeit der Phönizier eine lohnende Einnahmequelle. Die Viehzucht beschränkt sich meist auf eine Weidewirtschaft mit Schafen und Ziegen.

Die Fischerei - einst ein Haupterwerbszweig Ibizas - besitzt hier wie auf allen Mittelmeerinseln eine rückläufig Tendenz. Die Ursachen: Raubbau und Meeresverschmutzung. Was gäbe es sonst noch für Einnahmequellen für die Einwohner Ibizas? Das Handwerk, zaghafte Anfänge einer Industrialisierung und der Fremdenverkehr, vor allem der Fremdenverkehr.     nach oben

Blumentiere

Auf unseren Tauchgängen begegnen wir immer wieder den verschiedensten Formen von Blumentieren wie Seeanemonen, Krustenanemonen und in Tiefen ab etwa 7 bis 10 Meter unter abgeschatteten Überhängen kleinen Solitärkorallen wie beispielsweise den Pracht- und Nelkenkorallen. Solitärkorallen sind einzeln, also nicht in Form von Kolonien lebende Korallen.

Die Blumentiere sind stets nur als Polypen vorkommende Nesseltiere von zylindrischer Körperform mit überwiegend randständigen Tentakeln. Unter der zentralen Mundöffnung setzt ein Schlundrohr an, das in einen durch Scheidewände meist stark gefächerten Magenraum übergeht. Ihre Nahrung, vor allem kleinste, frei im Wasser schwebende Organismen, filtern die Blumentiere mit den Tentakeln aus dem Wasser. Einige der Seeanemonen fressen auch kleine Beutetiere.

Wie alle Arten aus dem Stamm der Nesseltiere besitzen auch die Blumentiere Nesselkapseln, wahre Meisterstücke der Natur. Die winzigen Nesselkapseln gehören mit zu den kompliziertesten Zellgebilden des Tierreiches. Sie befinden sich in der Rumpfwand, auf den Tentakeln und in den Scheidewänden. Bei der zartesten Berührung einer an der Kapsel angebrachten Sinnesborste scheint der Kapseldeckel förmlich zu explodieren. Ein in der Kapsel befindlicher, aufgerollter Nesselfaden stülpt sich mit unglaublicher Geschwindigkeit um wie ein Handschuhfinger, durchbricht dabei den Deckel und dringt mit seinen stilettartigen Borsten in das Beutetier. Dann wird durch den Faden das Nesselgift injiziert. Nach dem Auslösen ist die Kapsel nutzlos wie eine abgefeuerte Patrone. Sie wird abgestoßen und durch eine neugebildete Nesselkapsel ersetzt.

Während eines Tauchgangs bei den so genannten Blauen Löchern sehe ich in etwa sechs Meter Tiefe zum ersten Mal eine Mittelmeer-Zylinderrose. Ihre Wohnröhre ragt nur wenige Zentimeter aus dem weichen schlammigen Grund der Höhle. Ich nähere mich sehr behutsam diesem Tier, damit es sich nicht in seine Wohnröhre zurückzieht. Der Polyp besitzt mindestens 100 bis zu 20 Zentimeter lange Tentakel. Sie sind in vier Kreisen um die Mundöffnung angeordnet. Mit graziös anmutenden Bewegungen der äußeren Tentakel befördert die Seeanemone ab und zu ein hängengebliebenes organisches Schwebeteilchen zur Mundöffnung

Von den fünf im Mittelmeer lebenden Krustenanemonen ist die Gelbe Krustenanemone die auffälligste und fotogenste Art dieser Blumentierordnung. Die etwa zwei Zentimeter großen Polypen einer Kolonie sind am Fuß durch Ausläufer, so genannte Stolonen, miteinander verbunden. Hornkorallen, wie die verzweigten Gorgonien, hat Peter in den Tauchrevieren vor Ibiza nicht entdecken können. Dafür zeigte er uns aber in Tiefen ab 40 Meter kleine Stöcke roter Edelkorallen. Die Meerhand ist eine bis 50 Zentimeter hohe koloniebildende Weichkorallenart. Ihre Polypen sind in einer weich und elastisch bleibenden Körpermasse eingebettet.

Im Mittelmeer leben schließlich auch mindestens zwei Dutzend Seeanemonenarten, von denen Sporttaucher der Wachsrose und der auch im Schwarzen Meer lebenden Purpurrose am häufigsten begegnen.     nach oben

Die Hauptstadt

Die Hauptstadt Ibizas heißt Ibiza. Von welcher Seite man auch diese Stadt erreicht, stets fängt sich der Blick zuerst an dem Hügel mit der Altstadt Ibizas, mit dem Kastell, der Kathedrale und einem mächtigen fast zwei Meter dicken Mauerring mit sieben Bastionen. Vermutlich errichteten hier bereits die Karthager mehrere Jahrhunderte v. u. Z. die ersten Befestigungen. Steinerne Beweise dafür wurden aber noch nicht ausgegraben. Von den späteren Besatzern in der wechselvollen Geschichte der Insel, den Mauren, sind dagegen noch einige Bollwerke und Türme vorhanden.

Im Jahr 1235 verlor der Islam hier seinen letzten Stützpunkt. Mit der Reconquista, der Rückeroberung der Jahrhundert lang von den Arabern besetzten spanischen Gebiete, zog im Jahre 1235 mit den Spaniern die katalanische Sprache und das Christentum auf Ibiza ein. Das heutige Festungswerk basiert auf die Bauanordnungen von 1554 durch Karl V. Diese Anlagen gelten als das wichtigste erhalten gebliebene Zeugnis damaliger Befestigungstechnik innerhalb Europas. Es steht daher seit 1946 unter Denkmalsschutz.

In der Hauptstadt zählt man um 1980 rund 23 000 Einwohner. Aber durch welchen Teil der Stadt man auch streift, egal ob über Hauptverkehrsadern und Promenierstraßen, in den Einkaufszentren, entlang des Hafenviertels oder in einem Neubaukomplex - stets habe ich das Gefühl, auch jetzt im Oktober übertreffen die Sommergäste immer noch bei weitem die Anzahl der einheimischen Bürger. Bettler, wie ich sie später selbst in den nobelsten Prachtstraßen von Madrid antreffen würde, sieht man in Ibiza nicht. Die Stadtväter verboten die Bettelei. Es passt so schlecht in die Welt des schönen Scheins für erlebnis- und sonnenhungrige Touristen, wie er ja fast immer über alle Ferienparadiese zu schweben pflegt.

Drei Tore führen hinauf in die Altstadt, in ein Gewirr ineinander verschachtelter Häuser mit Treppen, Kopfsteinpflaster und vielen Sackgassen. Ein Stadtplan ist unnötig. Es geht nur bergauf oder bergab und man landet nach einigen Irrwegen stets entweder vor der Kathedrale oder Burg oder an einem der drei Tore. Gelegentlich öffnen sich die Straßen zu einem überraschend großzügigen Platz oder sie geben den Blick frei auf die verschiedenen unteren Stadtteile Ibizas.

Ibiza ist vermutlich die einzige Stadt der Welt, die ein den Seeräubern gewidmetes Denkmal besitzt. Der am Hafen stehende Obelisk ist dem ibizenkischen Piraten Antonio Riquer zugeeignet. Dieser besiegte im 17. Jahrhundert einen anderen, oft auch Ibiza heimsuchenden Freibeuter aus Gibraltar. Ibiza besitzt heute 23 000 Einwohner. In der Hauptsaison sind sie nur eine bescheidene Minderheit gegenüber den Heerscharen der Touristen. Die Ibizenkos mögen die Fremden nicht, aber wie sollten sie ohne diese existieren?     nach oben

Ufertauchgänge

Tauchgänge vom Boot aus sind herrlich bequem, aber auch teuer. An etlichen Tagen leihe ich mir deshalb nur ein Tauchgerät, rüste mich an der Basis aus und klettere dann in voller Montur keuchend und schwitzend und mit fast 40 Kilogramm Ausrüstung behangen über einen Felshügel hinab in eine kleine Bucht jenseits des Tauchstützpunktes.

Die Unterwasserausflüge in dieser Bucht führen bis in Tiefen zwischen 6 und 15 Meter und dauern etwa 45 bis 60 Minuten. Mein sparsamer Luftverbrauch gestattet mir zwei Tauchgänge mit einer Flaschenfüllung. Ich schwimme also zwischendurch zurück an das Ufer. In dem UW-Kameragehäuse befindet sich stets eine Plastiktüte mit einem kleinen Handtuch und zwei Reservefilmen. Ich wechsele den Film, wärme mich auf und schwimme abermals hinaus. Bei einigen Tauchgängen begleitet mich - oder ich ihn? - Karl-Heinz mit seiner Filmkamera. Diese Bucht bietet eine Vielfalt an Fotomotiven, angefangen von Fischschwärmen bis hin zu winzigen Nacktschnecken.

Nacktschnecken sind oft wunderschöne gehäuselose Schnecken von meist nur wenigen Zentimetern Länge. Im Mittelmeer leben etwa 250 Arten. Ihre systematische Einordnung ist kompliziert, aber schwieriger noch oder gar unmöglich ist die präzise Bestimmung der Art nach dem äußeren Erscheinungsbild. Doch das ist nicht unser Problem. Systematiken und Namen wären hier oft nur Schall und Rauch, der längst wieder verweht sein kann, wenn man am Ende des Berichts angelangt ist. Es mag genügen, zwei große Gruppen zu benennen - Sternschecken und Fadenschnecken.

Die Sternschnecken sind unter Wasser am leichtesten an dem Kiemenbüschel erkennbar, das sternförmig um den After angeordnet ist. Ihre beiden Fühlhörner und die Kiemen lassen sich einziehen. Eine der bekanntesten und unverwechselbarsten Sternschnecken des Mittelmeeres ist die bis fünf Zentimeter große Leopardenschnecke. Sie ernährt sich von dem braunen Schwamm Petrosia. In der Leopardenschnecke wiederum leben symbiotisch einzellige Algen. Die Rückenflecke stimmen mit der Schwammfarbe überein. Die Fadenschnecken sind noch fotogener. Sie tragen auf dem Rücken zwei Reihen ungefiederter Hautpapillen. Diese sind einzeln hintereinander oder gruppenweise angeordnet. Fadenschnecken haben außerdem zwei Fühlhörner und zwei tiefer angeordnete Riechfühler. Diese lassen sich, wie die Hautpapillen, meist nicht einziehen. Im Mittelmeer leben 80 bis 100 Fadenschneckenarten.

Alle Meeresnacktschnecken sind Zwitter. Sie besitzen ein recht kompliziertes Fortpflanzungssystem. Die Tiere befruchten sich teilweise gegenseitig und legen dann ihren Laich in Form von Schnüren, Bändern oder Spiralen auf geeigneten Untergründen ab. Die Nacktschnecken sind in ihren Nahrungsgewohnheiten recht eigenwillig. Sie fressen oft nur eine bestimmte Spezies, von der sie sich in Schneckenmanier mit einer Raspelzunge Nahrungsteilchen abraspeln. Sternschnecken bevorzugen Schwämme, Fadenschnecken dagegen Nesseltiere, vorzugsweise die Polypen von Hydrozoenkolonien. Hydrozoen gehören ebenfalls zu den Nesseltieren. Wo die zarten Hydrozoenkolonien leben, findet man oft auch Fadenschnecken.

Alle Nesseltiere besitzen hervorragende Fang- und Abwehrwaffen: die bereits erwähnten, bei der geringsten Berührung in Aktion tretenden Nesselkapseln. Die Fadenschnecken freilich kümmert es nicht. Sie „rüsten“ die Batterien der Nesseltiere ab und funktionieren sie in eigene Verteidigungswaffen um. Meines Wissens ist noch nicht geklärt, wie die Fadenschnecken diesen Waffenklau schaffen. Tatsache indes ist jedoch: Die Nesselkapseln werden abfressen und unversehrt durch den eigenen Körper und die Mitteldarmdrüsen bugsiert. Diese Drüsen - man nennt sie auch Leber - reichen bis in die Hautpapillaren. In den Endverdickungen der Rückenanhänge, in so genannten Nesseltaschen, sammeln die Fadenschnecken die immer noch unversehrten Nesselkapseln, um sie dann von Zeit zu Zeit - etwa bei Überfüllung - wieder ins Wasser auszustoßen.

Diese Kleptocniden - den Begriff könnte man etwa mit geklaute Nesselkapseln übersetzen - dienen vermutlich vor allem dem eigenen Schutz. Fische die solche Rückenanhänge abbissen, spuckten sie sofort wieder aus und mieden fortan jene Schnecken. Diese Tatsache verleiht den prächtigen Färbungen auch eine Funktion als Warnsignal: Achtung, ich, die Nacktschnecke Facelina, bin ungenießbar! Gegen UW-Fotografen habe ich allerdings nichts - wird sie hoffentlich denken . . .     nach oben

Formentera

Der 12. Oktober - die Entdeckung Amerikas - ist in Spanien Nationalfeiertag. Folglich ist die Tauchbasis geschlossen. Claudia, Jörg und ich nutzen diesen und den nächsten Tag zu einem Besuch Formenteras, der viertgrößten Baleareninsel. Das Fährschiff tuckert etwa anderthalb Stunden in Richtung Süden, ehe es in den palmengeschmückten Hafen von Formentera einläuft. Er heißt La Sabina. Stille umfängt uns und das Gefühl, als könne hier nichts Dringliches zu tun geben. Wir mieten Fahrräder und radeln in Richtung Cabo Berberia, dem südlichsten Punkt der Insel. Diese Strecke ist etwa zehn Kilometer lang.

Der Weg nach Cabo Berberia führt über San Franzisko Javier, dem Hauptort der Insel. Seine massive bunkerähnliche Kirche aus dem 18. Jahrhundert erinnert an die bewegten Zeiten, da ständig Piratenüberfälle drohten und die Einwohner Formenteras Kanonen zu ihrer Verteidigung in der Kirche aufstellten. Einige Kilometer vor dem südlichsten Punkt der Insel wird die Landschaft immer karger und steiniger. Ein letztes Gehöft liegt am Wegesrand, dann nur noch Ödland und Fels. Am Leuchtturm endet Formentera. 200 Kilometer weiter südlich beginnt Afrika.

Ja, was wäre von Formentera zu berichten? Die Insel ist an ihrer längsten Stelle nicht einmal 20 Kilometer lang. Auf Formentera leben 3500 Einheimische, 500 Festlandsspanier, einige hundert ausländische Geschäftemacher und Gewerbetreibende, einige hundert Hippies und je Saison über 11 000 Touristen. Das Dasein der einheimischen Bevölkerung ist einfach bis karg. Ende der 70er Jahre betrug ihr monatlicher Durchschnittsverdienst 160 DM.

Die traditionelle Grundlage für den Lebensunterhalt sind Feldbau, Viehzucht und Fischfang. Immer noch stehen einsame Bauerngehöfte in der Landschaft, als hätte sie jemand vergessen. Die Familien von Formentera bilden oft keine Gemeinden, sondern es bebaut jeder für sich seine Felder. Getreide, Wein, Feigen und Oliven sind die wichtigsten Agrarerzeugnisse. Hier und da gehören großräderige Pferdefuhrwerke noch zum alltäglichen Bild wie die seit Jahrhunderten bedächtig ihre Arme schwenkenden Windmühlen. Don Quichotte fände hier noch genug kampfbereite Gegner. Wir fahren zurück und suchen uns eine Unterkunft für die Nacht.

Am nächsten Tag durchqueren wir die Insel auf ihrer Längsachse, auf einer 16 Kilometer langen und übrigens bemerkenswert guten Asphaltstraße. In der Mitte verengt sich Formentera auf zwei Kilometer Breite, dann windet sich die Straße in den teils mit Pinienwald bewachsenen höheren Teil der Insel hinauf. Immer öfter müssen wir schieben. Die Straße endet wieder an einem Leuchtturm, La Mola, dieses Mal am östlichsten Part der Insel. Wir sitzen lange an dem schroffen Felsabsturz, schauen hinab auf die See und denken an Formentera. Sollen wir dieses Fleckchen Erde als Idyll vom einfachen Leben beneiden oder wegen seiner scheinbaren Rückständigkeit bemitleiden? Aber, fällt uns dann ein, selbst wenn man sich für die Bewertung als Idyll entschiede: Seine Tage sind gezählt. Das alte Wasserrad klappert nicht mehr und jenseits der Salinen, um nur ein Beispiel zu nennen, schießt gleich einer Drachensaat oberhalb von Pujols ein neues Touristengetto empor: trotz Proteste der Formenteraner und der spanischen Presse. Die Zersiedlung der Insel läuft an, eine Umkehr ist nicht möglich. Niemand wird diese Häuser sobald wieder abreißen. Das Leben auf Formentera ist nicht mehr - wie noch vor 10 oder 15 Jahren - der Zivilisation entrückt. Der Tourismus, die erfolgreichste Wachstumsindustrie, wird den Stadtflüchtigen aus aller Welt die Stadt hinterher bringen, mit all ihrer Hektik, dem Lärm und Unrat. „Man ist dabei“, heißt es in einer Protestnote der Sozialistischen Partei Formenteras, „die Lebensbedingungen und die Umwelt auf Formentera zu zerstören zu Gunsten von Spekulanten, die nicht von dieser Insel sind. Aus dem Formentera der Fischer und Bauern wird ein Formentera der Kellner und Putzfrauen werden.“     nach oben

Meine spärlichen Vorräte

an Peseten stecken in einer Geheimtasche im Hosenbein. Diese Tasche muss - wie üblich - ein Loch besitzen, denn die Vorräte schwinden mit unglaublicher Geschwindigkeit. Immer öfter verzichte ich auf Bootsausfahrten und steige über die Klippen hinab in jene stille Bucht. Immer sparsamer wird mein Luftverbrauch. Einmal gelingen mir mit einer Flaschenfüllung gar drei Tauchgänge mit Tauchzeiten zwischen 28 und 49 Minuten. Ein warmes Mittagessen kenne ich ohnehin nur noch aus der Erinnerung.

Aber das Erlebnis der mediterranen Unterwasserwelt entschädigt für alle Mühen. Wie schwerelos schwebe ich durch das klare, warme Wasser und genieße die mindestens 15 Meter weite Sicht. Aus dem Küstensaum herausgebrochene Felsblöcke bedecken den Grund. Pflanzenteppiche aus allerlei Algenarten wuchern aus Spalten und überziehen oft auch das Gestein. Hier stöbern gern verschiedene Brassenarten nach Nahrung. Manchmal verdunkelt ein riesiger Sardellenschwarm wie eine gleitende Wolke das Areal. Weiter draußen öffnen sich kleine Schluchten, zu deren Böden ich mich gerne hinabsinken lasse. Die Wassertiefe beträgt nun 6 bis 8 Meter. In den zahllosen Ritzen und Winkeln gedeiht eine vielfältige kleine Tierwelt. Ihre Vertreter sind meine bevorzugten Fotomotive. Sie halten immer so schön still wie beispielsweise diese Purpurseescheide.

Im Mittelmeer leben ungefähr 60 Seescheidenarten. Erwachsene Seescheiden sind immer festsitzende zwitterige Tiere, deren Körper ein Mantel aus einem zelluloseähnlichen Material umhüllt; daher auch der Name Manteltiere. Als ich die Fingerspitzen behutsam nach der Seescheide ausstrecke und ich mich dabei auf wenige Zentimeter nähere, zieht sich das Tier etwas zusammen. Durch diese Reaktion des scheinbar leblosen Organismus kann ein Laie die Seescheiden von den manchmal äußerlich ähnlichen, doch immer stets reglos bleibenden Schwämmen unterscheiden.

In der Anatomie der Seescheiden finden sich Anklänge an die Entwicklung der Wirbeltiere. Ihre freischwimmenden Larven besitzen ein Neuralrohr und eine Chorda. Die Chorda ist ein Stützstab, um den herum sich bei den höheren Wirbeltieren die Wirbelsäule ausbildete. Ihre Reste sind bei den Wirbeltieren als Zwischenwirbelscheiben noch erkennbar. Bei der Umwandlung der Ascidienlarven zu Alttieren geht die Chorda freilich wieder verloren.

Ein wenig unheimlich ist die Begegnung mit den knapp einen halben Meter großen Seriolafischen. Ohne langes Zaudern nähert sich stets ein Schwarm bis auf zwei Meter Entfernung. Er beginnt mich zu umkreisen. Die Augen der Fische sind starr auf mich gerichtet. Ich habe das Gefühl als überlegten sie jetzt, ob es sich lohne mich anzuknabbern oder nicht. Sie entscheiden sich aber immer für das letztere und verschwinden nach einem Dutzend Runden in dem bläulichen Dämmer.

Das Ende des Atemluftvorrats mahnt zur Rückkehr. Schweren Herzens verlasse ich die mediterrane Unterwasserwelt, ein Reich mit vielen harmonischen Farben und leisen Tönen, einem Lebensraum, der in manchen Seegebieten zum Veröden verurteilt ist. Ob ich diese Welt je und wenn ja, so leidlich heil wiedersehen werde?

Am Ende der vierwöchigen Reise stehen 33 Tauchgänge in meinem Logbuch. Als ich diese bezahlen will, gerate ich ein wenig in Schwierigkeiten. Der Hintergrund: Bei gelegentlich hier aufflackernden Diskussionen unter den Tauchern habe ich natürlich die DDR verteidigt. Die übliche Reaktion, wenn man sich angegriffen fühlt.  Man streitet dann bekanntlich auch für Dinge, die man eigentlich ablehnt. Und einmal hatte ich aufgeschnappt, dass Klaus zu Peter sagt: „Die sind doch alle geschult, dem kannst du ruhig den vollen Preis abnehmen.“ Mit „Ostermäßigungen“ sollte ich hier also besser nicht rechnen.

Deshalb möchte ich nach zwei Wochen erst einmal meine Tauchgänge bezahlen um zu wissen, was ich mir noch leisten kann. Ich spreche ihn darauf hin an. Peter A. Reiserer ist ein stark von Stimmungen abhängiger Mensch. Um das Wörtchen „launisch“ zu vermeiden. Und er ist gerade gut gelaunt. „Ach lass es“, sagt er, „zahle am Ende. Ich mache dir einen Sonderpreis.“ Und notiert in der Folge auch meine Tauchgänge nicht mehr in sein Kassenbuch. Doch ich hätte darauf bestehen sollen!

Nach meinem letzten Tauchgang springt der Außenbordmotor nicht mehr an. Assistent Rainer hechtet über Bord und schwimmt zurück an Land. Peter schaut finster hinterher. Wir schweigen und warten. Schließlich kommt Rainer mit dem zweiten Schlauchboot und schleppt uns zurück in die Bucht. Der Motor wird abgebaut und in den Pick-up  geladen. Er muss in die Werkstatt.

 Am späten Nachmittag gehe ich Bezahlen. Peter ist immer noch mürrisch. „Wie viele Tauchgänge? Ich hab’s nicht aufgeschrieben.“

„Dreiunddreißig“, sage ich stolz. Er tippt den  Standardpreis in seinen Taschenrechner. „Macht 705 DM!“

„So viel habe ich nicht mehr“, sage ich erschrocken. Habe ich zwar noch, aber es sind auch drei Tage Madrid mit einzukalkulieren. Hätte ich es vorher gewusst, mit fünf Tauchgängen weniger (macht einen Hunderter) wäre die Welt auch nicht zusammengebrochen. Doch es ist mir auch zu doof, ihn an den Sonderpreis zu erinnern. Wir einigen uns, dass ich 650 DM bezahle. Den Rest wird meine Mutter von Westberlin aus überweisen.     nach oben

San Antonio

Ich nutze den vorletzten Tag zu einem Besuch San Antonios, dem Ort mit den meisten Touristen auf Ibiza. Ich klettere in Portinatx in den Überlandbus. San Antonio war Anfang der fünfziger Jahre noch ein stilles Fischerdorf an der Bucht Cala Gració, das sich um die auf einem Hügel liegende Wehrkirche aus dem 14. Jahrhundert scharrte. Wie die meisten alten Kirchen auf den Balearen wurde sie nicht nur für religiöse Zwecke gebaut, sondern gemäß dem Wort „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott“ auch zur eigenen Verteidigung. Um 1960 besaß San Antonio bereits 35 Pensionen und Hotels. Anfang der achtziger Jahre ist es die zweitgrößte Stadt Ibizas mit mindestens 10 000 Einwohner und ein mehrfaches an Touristen. San Antonio besitzt einen ausschließlich für Urlauber gebauten Ferienkomplex auf der anderen Seite der Bucht gegenüber der Altstadt mit über einem halben Hundert riesiger, bis zu 14 Geschosse hoher Hotels: ein synthetischer Stadtteil, einer der größten Ferienkomplexe ganz Spaniens. Er ist nur mit Bussen oder Booten von dem eigentlichen San Antonio aus zu erreichen.

Massentourismus kann aber keine langfristige Lösung wirtschaftlicher Probleme eines Landes bringen. In dieser Branche wird nur auf schnelle -Gewinne spekuliert und fleißig an dem Ast gesägt, auf dem nicht nur der Reiseunternehmer, sondern auch die einheimische Bevölkerung sitzt: ein schöner Reiseort = viele Interessenten = viele Hotels = überbelastete und zerstörte Umwelt und deshalb zu anderen Orten reisende Touristen. Und was bleibt dann den Einwohnern, zum Beispiel denen Ibizas? Ein angeknackstes Sozialgefüge, eine zerstörte Landschaft, leere Hotels, Ruinen aufgegebener Neubauten, mit Stacheldraht umzäunter Boden, auf dem nun verödete Ferienhäuser dem Verfall entgegen schlummern. Ach wenn sich doch Beton wenigstens als Heizmaterial verwenden ließe . . .

Der einzige Ausweg aus dem weltweiten touristischen Dilemma scheint nur eine drastische Reduzierung der Besucherzahlen durch administrative Maßnahmen auf jeweils den örtlichen Bedingungen angemessene Verhältnisse zu sein. Beispielsweise mit einer solchen Anordnung: 20 Hotels und Herbergen mit maximal je 100 Betten für San Antonio sowie eine Aufenthaltsdauer von höchstens drei Wochen! Die Unterkünfte wären dann sicher ganzjährig belegt, denn Reisen nur in der Hauptsaison ist auch eine heute eigentlich schon nicht mehr vertretbare stoßweise Belastung der Umwelt.

Aber auch auf die Touristen ist wenig Verlass, denn sie sind launisch, wechseln nach kaum vorhersehbaren Gesetzen ihre Reiseziele. Und sie wollen für möglichst wenig Geld möglichst viel. Freilich manchmal auch für viel Geld wenig, wenn dafür Exklusivität als Ausgleich geboten wird. Man möchte doch - ich bitte sie - in Ibizas elegantem Café Montesol nicht neben seinem Mieter sitzen. Der auf den Balearen typische Kräuterlikör Hierbas beispielsweise kostet hier nämlich das doppelte als in einer taberna gleich um die Ecke, stammt aber aus der gleichen Abfüllung!

All dies, könnte man nun meinen, ist ja nicht unser Problem! Ibiza liegt für uns DDR-Bürger weiter hinter den sieben Bergen als Taschkent. Irrtum, wie inzwischen wohl jeder weiß, ähnliche Probleme treffen auch uns. Das Ostseewasser wird durch die alljährlichen drei Millionen DDR-Urlauber auch nicht sauberer und die Betonsilos für Feriengäste an der Schwarzmeerküste sind nicht umweltfreundlicher als anderswo, nur weil sie aus volkseigenem Erdreich emporschießen. Wir alle werden damit leben müssen, denn ökonomische Zwänge haben ihre eigenen Gesetze. Aber es lohnt darüber nachzudenken, wie sich allein schon durch unser Verhalten Schäden verringern ließen. Verzeihen Sie bitte, dass ich mit einer Agitation die Berichte über meine drei Reisen an das Mittelmeer (Korsika, Sardinien, Ibiza) abschließe; aber es ist mehr denn je notwendig nicht zu resignieren mit einem „was nützt es, wenn nur ich . . .“ oder auch „warum ich, sollen doch erst einmal die . . .“, denn die sind auch wir - und wir haben nur die eine Erde!


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