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Tauchreiseführer Korsika

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156 Seiten DIN A4 mit ungefähr 300 Schwarz-Weiß-Abbildungen (Fotos, Karten, Cartoons, Webseiten). 3. neu bearbeitete Auflage/Edition 2013. Softcover mit farbigem Einband, Fadenheftung. ISBN 3-937522-37-1, gebundener Ladenpreis 21,80 €.

Korsika, die Insel der Schönheit und des Lichts, der Fels im Meer mit wilden Küsten, schroffen Bergen und wildromantischen Landschaften, aber auch mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen. Unser Thema: die Unterwasserwelt! Reise- und Tauchtipps zur gesamten Insel. Beschreibungen zu fast allen deutschen und zahlreichen französischen Tauchbasen, ihre Tauchplätze, Erfahrungsberichte anderer Taucher, Adressenverzeichnisse  und eine Reisebeschreibung über die erste Begegnung des Verfassers mit Korsika.

< Zur nebenstehenden Abbildung: blau umrahmt im Buch enthaltene Seekartenausschnitte, auf die sich die Tauchbasen- und Tauchplatzbeschreibungen beziehen.

Inhaltsverzeichnis  |  Und als Leseprobe ein Text aus diesem Tauchreiseführer: Begegnungen mit Korsika     |  nach unten

"Tauchen auf Korsika" ist in erster Linie eine Reise- und Tauchplatzbeschreibung und auch ein Tauchbasenführer. Zwar ist eigenverantwortliches Tauchen möglich, doch stehen dem eine Reihe von Schwierigkeiten entgegen wie beispielsweise die Problematik der Logistik (die gesamte Ausrüstung mitschleppen einschließlich Boot und Kompressor) oder das Finden geeigneter Tauchstellen. Rechnet man alle Zeit- und sonstigen Aufwendungen, alle Kosten, Nervenbeschädigungen und Schweißtropfen zusammen - lohnt das für die zwei oder drei Urlaubswochen überhaupt? Für uns Otto Normaltaucher ist folgendes gewiss die einfachste, sicherste und bequemste Lösung: Sich bis zu einer Tauchbasis durchzuschlagen und unbekümmert aller Probleme tauchen bis zum Abwinken. Nicht einmal die persönliche Ausrüstung bräuchte man mitzubuckeln. Diese Bequemlichkeit hat freilich ihren Preis. Aber ob es wirklich teurer wird als wenn man alles selbst organisierte, ist noch die Frage! Der Verfasser gesteht, in seinem Plädoyer für basenorientiertes Tauchen außer der Sicherheit und Bequemlichkeit noch einen anderen Aspekt im Hinterkopf zu haben: den Schutz (nein, nein, nicht den von Tauchlehrerarbeitsplätzen) des Tauchens und der Tauchgebiete. Unkontrolliertes Tauchen verleitet - ach wie leicht sind wir doch verführbar - zu Missbräuchen! Lacht da nicht eine Languste, leuchtet hier nicht ein schönes Schneckenhaus, provoziert dort nicht ein aus dem Grund ragender Amphorenhals? Was macht es schon, wer sieht es denn (wenn nicht der wachsame Tauchguide, besorgt um seine Kundenweide)? Doch die Abwandlung eines Slogans vergangener Zeiten ist wohl mehr denn je gültig: So wie wir heute tauchen, wird morgen die Umwelt und Gesetzgebung sein!
 


Inhaltsverzeichnis     nach unten     nach oben     home

Vorbemerkungen (8)

Meine erste Begegnung
   Ein Reisebericht (9)

Anreise und so weiter . . .

Ein- und Ausreisebestimmungen (33) - Flugzeug (33) - Kraftfahrzeug (34) - Eigenes Kraftfahrzeug (34) - Autofähren (35) - Reise-ABC (37)

Tauchen

Tauchbasen (41) - Schutzgebiete (42) - Boote (43) - Pressluft und Dekokammer (43) - Jäger und Sammler (43) - Wind (44) - Temperatur und Sicht (44) - Strömungen (45) - Küste (45) - Und wo tauchen? (46)

Nordküste (L’Ile Rousse - Bastia)

L’Ile Rousse (47) - Saint-Florent (50) - Cape Corse (52) - Bastia (53) - Tauchplätze: Golf de Calvi bis Cape Corse (55) - Golfe de Saint-Florent (57) - Bastia (59)

Ostküste (Moriani-Plage - Solenzara)

Village de Vacances (61) - Ghisonaccia (65) - Solenzara (65) - Tauchplätze Ostküste (66)

Südostküste (Porto Vecchio - Palombaggia)

Porto-Vecchio (69) - Punta di a Chiappa (74) - Plage de Palombaggia (76) - Tauchplätze Südostküste (77)

Südküste (Bonifacio - Lavezzi)                                  nach unten     nach oben     home

Bonifacio (81) - Tauchplätze Südküste (83) - Taucherschiffe (86)

Südwestküste (Roccapina - Porto Pollo)

Roccapina (89) - Einige Tauchplätze (89) - Campomoro (91) - Einige Tauchplätze (95) - Propriano (96) - Tauchplätze im Golfe de Valinco (98) - Porto Pollo (99) - Tauchplätze um Porto Pollo (100)

Westküste (Ajaccio - Porto)

Porticcio (101) - Ajaccio (103) - Calcatoggio (106) - Sagone (107) - Porto (110) - Einige Tauchplätze (112) - im Golfe de Lava  und Sagone (113) - im Golf de Porto (114) - im Golf de Girolata (116)

Nordwestküste (Galéria - Algajola)

Galéria (117) - Argentella (119) - Revellata (119) - Calvi (121) - Sant Ambroggio (123) - Algajola (124) - Tauchplätze (125) - im Golfe de Galéria (126) - im Golfe de Calvi (128)

Taucher berichten . . .

Vereinsfahrt Seepferde Unna, Mai/Juni 2006, M.S. Galiote, Tauchschule Tropica, Centre de Plongée du Golf de Porto  (129)

Literatur- und Quellenverzeichnis (133)

Tauchbasenverzeichnis (137)

Register

Orte, Landschaften, Seegebiete, Tauchplätze  (145)

Unsere Publikationen (149)


Bestellung per E-MailIhre Anschrift bitte nicht vergessen!

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Begegnungen mit Kosika

Korsika  -  Macchia Mittelmeer  -  L'Ile Rousse  -  Argentella  -  Seeigel  -  Wachsrosen  -  Fototechnik  Tintenfische  -  Seegurken  -  Meeresverschmutzung  -  Calvi  -  Golfe de Porto  -  Ota bis Solenzara - Wirtschaft, Familie und Politik  -  Bonifacio  -  Lavezzi  -  Gorgonien  -  Zackenbarsche  -  Ajaccio  -  Am Pfeilerfelsen  -  Röhrenwürmern  -  Tauche nie alleine!  -  Schwämme  -  Muränen  -  Sammler  -  Die Tage schwinden  Au revoir, Korsika

Im Jahr 1980 bekam der Verfasser erstmals die Gelegenheit, jene (relativ) engen Grenzen zu verlassen, die der Sozialismus „seinen“ Bürgern gesetzt hatte. Er wollte diese Chance weidlich nutzen: Mittelmeer, Karibik, Rotes Meer! Letzteres hatte dann leider nicht und erst acht Jahre später geklappt. Aber wie auch immer: Mittelmeer hieß für den Verfasser Frankreich, dem Geburtsland des sportlichen Tauchens - und Frankreich wiederum endete für ihn zunächst in Korsika und dann (man befand sich ja immer noch in Frankreich ...) in seinen Überseedepartements Guadeloupe und Martinique! Viva la France.

Viele Wochen später und wieder daheim (mit diversem Ärger, es kostete aber natürlich nicht den Kopf!) sann der Verfasser noch lange, wie er all das Geschaute einordnen könne und was ihm besser gefallen hatte: das exotische Ambiente mit Palmen, dunkelhäutigen Menschen, einer Segeljacht und warmen Wasser, in dem bunte Fische in bizarren Korallenstrukturen spielten oder Korsika mit seinen Küsten, Bergen und Schluchten, mit all den herben bis wildromantischen Landschaften - und auf jedem Foto das tiefblaue Meer und zugleich irgendwo im Hintergrund oder am Bildrand immer auch einen Höhenzug oder einen Felsabhang. - Das Urteil ist immer noch nicht gefällt!

* * *

Brav und zuverlässig knattert der Trabant durch die Rhôné-Alpen und dann im Rhônetal hinab nach Süden. Der Regen bleibt in den Bergen zurück. In der Provence, hinter Avignon, ist es plötzlich wieder Sommer. Am Abend des 18. Oktober erreiche ich in Marseille den südlichen Rand Europas: das Mittelmeer.

Die Tauchbasen an der Côte d'Azur haben bereits geschlossen - Saisonende! Deshalb entscheide ich mich, vor den anderen Arbeiten in Marseille, zunächst die südlichste und damit wärmste Provinz Frankreichs aufzusuchen: Korsika. Aus Tauchsportzeitschriften weiß ich von einer bis Mitte November geöffneten Basis in L'Ile Rousse; auch besäße Korsika neben einer herrlichen Landschaft die schönsten Tauchgründe Frankreichs. Das nächste Schiff nach Korsika fährt am Montagabend. Zwei Tage verbringe ich ruhelos zwischen Marseille und Toulon. Es gelingt mir nirgendwo - außer an seichten Badestränden - zu einem ersten Erkundungstauchgang ins Wasser zu gelangen. Jedes Fleckchen Küste, das ich ansteuere, ist bebaut, eingezäunt, mit Verbotsschildern als Privatbesitz gekennzeichnet. Als böse Überraschung erweisen sich auch die horrenden Autobahngebühren. Und schließlich stresst der für einem Ostler ungewohnte höllische Verkehr, besonders in Toulon und Marseille. Obwohl Marseille: der alte Hafen ist äußerst sehenswert! Die Nacht vor der Abfahrt schlummere ich am Hafen in einer Parknische in der Nähe des Fährschiffterminals. Hier harren noch mehrere in ihren PKWs der kommenden Dinge. Ich bin froh, als am nächsten Tag endlich die Fähre ablegt. Eine weitere Nacht verbringe ich mehr recht als schlecht im Liegesessel des Fährschiffs. Als endlich der Morgen aufzieht, ist die Insel schon in Sicht.

Aus dem Grün der Insel schimmern rötliche Dächer. Mein Herz klopft erwartungsvoll. Das vielterrassige Häusermeer Bastias schält sich aus dem blauen Morgendunst. An Bord kommt Unruhe auf. Ich steige in die Wagenhalle hinab. Um halb acht klirrt die Fahrrampe auf den Kai. Zöllner, Hafenarbeiter, Flics und mehrere Zivilisten mit wachsamen Augen bilden ein Spalier. Auto um Auto rollt an Land, darunter auch mein IM 22‑59. Es ist Dienstag, der 21. Oktober. Ich bin endlich auf Korsika!     nach unten     nach oben

 

Korsika
ist etwa 184 Kilometer lang und bis zu 84 Kilometer breit. Seine Küstenlinien messen ungefähr 1000 Kilometer. Die Insel besitzt eine Fläche von 8700 Quadratkilometer. Auf je einen Quadratkilometer leben im Durchschnitt 26 und in den meisten Regionen der Insel sogar nur zwei Menschen. Korsika hat ungefähr 230 000 Einwohner, aber nur etwa die Hälfte von ihnen sind gebürtige und korsisch sprechende Korsen, die anderen kommen aus Frankreich und aus dem Ausland. In den siebziger Jahren verließen - meist aus wirtschaftlichen Gründen - mindestens 50 000 Menschen die Insel.

Die Herkunft der Ureinwohner Korsikas verliert sich im Dunkel der Vorzeit. Viele Volksstämme landeten und hinterließen ihre Spuren: Iberer, Ligurer, Phönizier, Griechen, Etrusker, Syrakuser, Karthager . . . Stets gelang es den Eroberern und Kolonisatoren nur, wenige Punkte an der Küste zu besetzen. Die Römer wollten die ganze Insel beherrschen. Sie kämpften 100 Jahre mit den Bergbewohnern. Im Jahre 162 v. Chr. hatten sie die korsische Bevölkerung so weit dezimiert,  dass Ruhe eintrat. Die Römer hinterließen ein bis heute erhaltenes Straßennetz. Sie gründeten die wichtigsten Städte, erschlossen die Thermalquellen, brachten der Insel das Christentum und die längste Friedensperiode: 600 Jahre. Im Laufe der darauf folgenden Jahrhunderte besetzten Vandalen, Goten, Langobarden, Byzantiner, Mauren und Araber die Insel. 200 Jahre lang stritten sich dann die Genuesen und Pisaner um Korsika. Genua siegte und erlangte 1284 die Alleinherrschaft. Viel Freude hatten auch die Genuesen nicht an ihrem Besitz. Korsika bot lediglich unsichere Siedlungsmöglichkeiten und Stützpunkte, aber zu holen waren nur Holz, Harz, Bienenwachs und - die Malaria.

Nun begann der Unabhängigkeitskampf, die Aufstände gegen genuesische Ritter, toskanische Grafen, Landadlige der verschiedenen Provinzen und gegen korsische Tyrannen. Hinzu kamen zahllose Familienkriege, die Raubzüge der in die Macchia Verbannten, die Vendetta (Blutrache): eine kaum unterbrochene Folge von Grausamkeiten, Tragödien und Morden. Es gäbe schon längst keine Korsen mehr, bestünde die Insel aus flachem Land. So aber flüchteten Bedrohte, Verfolgte, Geächtete in die Macchia, in die Wälder oder in die unwegsamen Berge. 1768 verkaufte Genua für zwei Millionen Franc Korsika an Frankreich. Die Franzosen landeten ihre Truppen. Seitdem gilt die Insel als französisches Departement. In Wirklichkeit ist sie aber stets nur eines gewesen: korsisch.     nach unten     nach oben

 

Macchia
Meter um Meter laviere ich den Trabant - Stoßstange an Stoßstange - durch das morgendliche Verkehrschaos von Bastia. Doch bald liegt Korsikas größte Stadt hinter mir. Die Straße windet sich in die Berge, vorbei an kleinen Häuschen, Villen, verlassenen und verfallenen Gehöften; sie schlängelt sich durch Olivenhaine und hügeliges, zerklüftetes Land. Bizarre Felsketten ragen über den Horizont. Nur etwa vier Kilometer Luftlinie entfernt vom Hafen erhebt sich der 961 Meter hohe Pigno. Eukalyptus- und Feigenbäume, fremdartige Gehölze, riesige Kakteen und vor allem die Macchia bedecken die weiten Hänge.

Die Macchia, ein fast undurchdringlich ineinander verfizzter Buschwald von halber bis knapper Manneshöhe, bedeckt über die Hälfte aller Flächen Korsikas. Macchia besteht überwiegend aus Baumheide, Erdbeergesträuch, Zistrose, Mastixstrauch, Ginster, wildem Spargel, Rosmarin und Lavendel. Das eigentümlichste an der Macchia ist ihr starker aromatischer Geruch. Napoleon erinnerte sich heimwehgeplagt auf dem unwirtlichen Sankt Helena: „Alles war dort besser, sogar der Duft des Bodens. Am Wohlgeruch allein würde ich mit geschlossenen Augen Korsika erkennen.“ Macchia - oder französisch Maquis geschrieben - bedeutet „Der Undurchdringliche“. Nach ihr benannte sich auch die französische Widerstandsbewegung.

Schon bald stoppe ich das Auto. Was für eine wunderschöne Landschaft! der Atem der Macchia weht durch das weitgeöffnete Fenster. Die über den Niederungen schwebenden Dunstschleier lösen sich auf. Das milde Licht des frühen Vormittags enthüllt eine Palette harmonischer Farben: das Gelb und Ocker herbstlichen Blattwerks, das Grün der Macchia, das Schwarz verbrannten Gesträuchs, das Weiß und Grau mancher Felsformation, den rötlichen Ton bestimmter Büsche, Blüten und Beeren und endlich das vielfältig abgestufte Blau des Meeres.

Thalatta, Thalatta! Das Meer, das Meer! Wie gut ich jetzt diesen Jubelruf verstehe. Ihn stießen nach Xenophons „Anabasis“ die von einer Schlacht (bei Kunaxa 401 v. Chr.) heimkehrenden Griechen aus, als sie endlich wieder die Gestade ihres heimatlichen Meeres erblickten. Heines Gedicht „Meergruß“ aus den Nordseebildern verlieh jenem Freudenschrei eine solche Popularität, dass seine Verwendung als Zitat bald schon als abgegriffen galt. Aber unablässig, gleich der verrinnenden Zeit, ändert sich der Wert aller Dinge. Nur die Wellen furchen unbeirrbar jahraus, jahrein das Mittelmeer, an dessen Küsten viele hochentwickelte Kulturen seit Jahrtausenden zur Blüte gelangten und wieder zerfielen.     nach unten     nach oben

 

Mittelmeer
Der Name Mittelmeer bezeichnet eine geographische Lage: in der Mitte zwischen zwei Kontinenten. Ansonsten ist es Teil des Atlantischen Weltmeeres wie das Schwarze Meer, die Nordsee und die Ostsee. Viele Monate glüht die Sonne über dem gleißenden Wasser. Die Sommer sind heiß, die Winter mild; denn das Mittelmeer liegt im Bereich der Subtropen. Es fällt kaum Regen. Auch münden hier nur wenige der großen Flüsse. Strömte nicht ständig Atlantikwasser über die Gibraltarschwelle in das Mittelmeerbecken, sänke durch Verdunstung der Wasserspiegel jährlich um ein bis anderthalb Meter. Die große Verdunstungsrate und die geringe Süßwasserzufuhr erhöhen die Salzkonzentration. In den Ozeanen beträgt der durchschnittliche Salzgehalt 35 Promille, im Mittelmeer aber zwischen 36,4 in Gibraltarnähe und 39,2 an den östlichen Rändern. Der stärkere Salzgehalt vergrößert die Meerwasserdichte gegenüber dem gleich temperierten Atlantikwasser. Deshalb fließt in der kalten Jahreszeit unter dem ins Mittelmeer eindringendem Ozeanwasser ein Tiefenstrom zurück in den Atlantik. So ist die Gibraltarschwelle gleichsam eine von salzigen Strömen durchpulste Nabelschnur; sie verbindet die mediterranen Seegebiete mit den Weltmeeren.

In Richtung Osten verliert das kalte Atlantikwasser immer mehr an Einfluss. Auch der Atem des Ozeans, das ewige tägliche Kommen und Gehen von Ebbe und Flut, schwindet bereits im westlichen Mittelmeer (es reicht von Gibraltar bis Sizilien) zur Bedeutungslosigkeit. Gegenüber 6 bis 12 Meter an englischen Küsten steigt und fällt hier das Wasser nur noch um 0,3 bis 0,6 Meter. Die Wassertemperatur erhöht sich dagegen in östlicher Richtung um einige Grad; im Hochsommer beträgt sie an der Oberfläche auf der Linie Monaco - Sardinien etwa 25 bis 27 Grad Celsius und sinkt im Februar ab auf 13 oder 12 Grad Celsius.

Die meisten Tiere des Mittelmeeres gehören zur Fauna des Atlantiks. Ungefähr 60 Prozent der beispielsweise vor Norwegen lebenden Arten besiedeln auch das westliche Mittelmeer. Einige Tiere stammen aus tropischen Regionen, etwa der farbenprächtige Meerpfau. Andere übersiedelten durch den Suezkanal aus dem Roten Meer. Schließlich zeichnet sich das Mittelmeer durch eine reichhaltige endemische Fauna aus, also nur hier lebenden Tierarten. Endemisch sind viele Schleimfische und ein Viertel aller Stachelhäuter.     nach unten     nach oben

 

L'Ile Rousse
Ich fahre weiter bergan zum 536 Meter hohen Pass Col de Teghime. An der Gedenkstätte für korsische Patrioten des zweiten Weltkrieges halte ich. Von hier aus bereiteten korsische Partisanen den faschistischen Truppen 1944 die entscheidende Niederlage auf korsischem Boden. Tagelang feuerte die Artillerie hinab in den deutschen Brückenkopf, auf die sich in Bastia einschiffenden fliehenden Soldaten. Mahnend richtet noch heute ein Geschütz den kalten stählernen Lauf auf die im Morgendunst verschwimmenden zarten Küstenlinien.

Die Straße windet sich in Schleifen nun wieder hinab an das Meer, an den lieblichen Golfe de Saint-Florent. An seiner Küste liegt der Badeort gleichen Namens, dessen Cathédrale de Nebbio (aus dem 13. Jahrhundert!) eine dreischiffige Basilika ist. Die Kathedrale gilt als eines der schönsten sakralen Bauwerke Korsikas. Die Nebbio ist eine fruchtbare Talbeckenlandschaft um Saint-Florent. Einst nannten sich die ortsansässigen Bischöfe Grafen de Nebbio; und beim Zelebrieren der Messen sollen neben den Altären stets geladene Pistolen gelegen haben.

Um elf Uhr erreiche ich L'Ile Rousse. Diesen Ort zeichnet ein an der Westküste Korsikas ganz seltener Vorzug aus: ein feiner Sandstrand. Dadurch entwickelte sich L'Ile Rousse - in Verbindung mit seinem schönen Hinterland - zu einem beliebten Fremdenverkehrsort. Jetzt aber ist der Strand menschenleer. Ein scharfer Wind fegt Sand durch die engen Gassen. Ich finde weder die gesuchte Tauchbasis noch einen Menschen, der sie kennt. Alle Leute, die ich mit Unterstützung eines Zettelchens befrage, sind zwar sehr bemüht, haben aber keine Ahnung. Ein Korse spricht deutsch. Wir geraten ins Erzählen. Eine Einladung folgt und schließlich entrinne ich nur mit Mühe einem prächtigen Gelage.

Die Straße zwischen L'Ile Rousse und Calvi ist neu und breit. Gleich hinter dem Ortseingang steht das stattliche zweistöckige Gebäude des französischen Tauchsportklubs GETS. Was mag das Logis hier kosten? Finanziell ist für mich eigentlich nur Camping möglich. Noch ehe ich es recht bedacht und einen Parkplatz gesehen habe, ist die Stadt schon durchquert. Das nächste mögliche Ziel wäre Argentella, Camp Morsetta. Da stehen auch schon am Straßenrand schultafelgroße Aufsteller mit diesem Namen. Je ein stilisierter Taucher und Surfer werben für mögliche Lustbarkeiten. Also dorthin. Ich bin wieder guter Laune und rase mit 20 Kilometer/h um die zahllosen Kurven.     nach unten     nach oben

 

Argentella
Als ich auf den Zeltplatz einbiege, steht die Sonne nur noch eine Handbreit über dem Meer. Die Rezeption und die Bar sind geschlossen. Irgendwo maunzt kläglich eine Katze. Der Waschraum ist offen. Zugluft raunt im Gebälk der dämmerigen Halle. Türen klappen. Eine Brause läuft. Ich denke an einen gewissen Hitchcockfilm und lenke den Wagen hinab an das Meer in offenes, übersichtliches Terrain. Platz ist ja genug. Das Camp ist absolut leer.

Die aufkommende Enttäuschung wird mit einem üppigen Abendessen bekämpft. Für die Hygiene genügt heute ein Notprogramm. Dann klappe ich die hintere Sitzbank nach vorn und rolle auf der so entstandenen Ladefläche Luftmatratze und Schlafsack aus. Um 19 Uhr herrscht tiefste Nacht. Der Wind frischt auf. Kälte kriecht von den Bergen herab. Ich schlüpfe unter die Decke und finde schwer Schlaf. Um Mitternacht stöbern drei Hunde um das Auto herum und entleeren dann die aus praktischen Erwägungen herangeschleppte Mülltonne.

Der Morgen dämmert. Gemächlich klimmt die Sonne hinter den Bergketten empor. Eine Zinne glänzt mit einer Aureole auf. Die Pracht ist von kurzer Dauer. Schon steigt die Sonne weiter. Ihr Licht fließt hellgelb die Hänge heran und erreicht endlich auch mich. Ein kaltes Bad? Frühsport? Ich setze den Benzinkocher in Betrieb. Kaffee! Wieder einmal siegte die angenehmste Variante der Muntermacher.

Anderthalb Stunden später wate ich zum ersten Tauchgang durch das feinkörnige Geröll hinab an das Wasser. Meine Fußspuren haben groteske Dimensionen. Mutmaßungen, dies stehe in gewissem Zusammenhang mit einem deftigen Frühstück, sind leicht zu widerlegen. Die Schuhgröße 48 stammt von den Stiefeln des Tauchanzuges. Von der augenblicklichen Gesamtmasse mit rund 110 Kilogramm sind nur 58 Kilogram Körpergewicht, der Rest ist Tauchausrüstung. Ich quetsche die Stiefel in die Schwimmflossen und stelze rückwärts ins Wasser. Schon nach wenigen Schritten schwappt es um meine Taille. Ich stecke den Kopf unter die Oberfläche - gespannt auf all die Wunder warmer Meere. Ich wundere mich gründlich.

Das Wasser schimmert blaugrün und ist sehr klar. Die Sichtweite beträgt mindestens fünfzehn Meter, vielleicht mehr. Zu sehen ist aber fast nichts! Ein kiesiger Ufersaum, Seeigel und eine sich im Ungewissen der Ferne auflösende Posidoniawiese, so genanntes Neptunsgras. Ich bin maßlos enttäuscht! Ich tauche bis zum Hals unter, hebe beide Arme knapp aus dem Wasser und öffne eine Handgelenkmanschette. Rauschend entweicht Luft aus dem Tauchanzug. Aber immer noch ist mein Auftrieb für einen eleganten Abschwung zu groß. Ich plantsche wie ein Anfänger und bin froh, keinen sachkundigen Zeugen am Ufer zu wissen. Nur die drei Hunde stehen mit schwer deutbaren Mienen am Strand.

In drei Meter Tiefe schwindet die Hektik. Der Wasserdruck hat durch Kompression der eingeschlossenen Luft und des Anzugmaterials meinen Auftrieb vermindert. Beruhigend leicht kommt Luft aus dem Atemregler. An meiner Hüfte baumelt ein mit dem Hochdruckschlauch an das Tauchgerät gekoppeltes Manometer zur Flaschendruckkontrolle. Über ein am Tauchanzug montiertes Ventil und einen zur ersten Stufe des Atemreglers führenden Niederdruckschlauch lässt sich der Tauchanzug aufblasen wie ein Luftballon. Ein zweites Brustventil dient zur Anzugentlüftung. So kann ich leicht meinen Auftrieb den Erfordernissen anpassen. Deshalb heißt das von schwedischen Berufstauchern entwickelte System „Unisuit“ eigentlich exakt: Variabel-Volumen-Tauchanzug. Gewöhnlich aber bezeichnet man ihn - und das ist keine Ironie! - als Trockentauchanzug.     nach unten     nach oben

 

Seeigel
Die erste Begegnung mit der Fauna des Mittelmeeres ist an Küsten mit hartem Untergrund oft von bestechender Eindringlichkeit - im wahrsten Sinne des Wortes. Schon stecken in irgendeinem Körperteil Seeigelstacheln. Bereits in der Nähe des Ufersaumes sehe ich Dutzende von Steinseeigeln. Sie leben oft dichtgedrängt in Wassertiefen ab einem halben Meter und bilden so einen gefährlichen Sperrgürtel, als gelte es, das Meer gegen die Invasion der Zweibeiner zu schützen. Kommt man den Steinseeigeln zu nahe, werden blitzartig die sonst beweglichen Stacheln fixiert. Sie dringen in die Haut ein und brechen ab. Nur mit Geduld, Nadel und Pinzette lassen sie sich wieder aus der Haut entfernen. In Gesellschaft der Steinseeigel leben die ähnlichen, aber weniger häufigen Schwarzen Seeigel. Sie haben längere Stacheln und sind nie bräunlich, sondern immer tief blauschwarz gefärbt. Ich drehe mit dem Messer einen Steinseeigel um. Es ist ein schwarzer; das weichhäutige Mundfeld nimmt - im Gegensatz zu dem wesentlich kleineren des Steinseeigels - die Hälfte der Körperunterseite ein.

Flossenbewehrt, tauchanzuggepanzert und schwimmend habe ich schadlos die „Stachelverhaue“ überwunden. Nun, in drei Meter Tiefe, sehe ich eine andere Seeigelart, eine violette Kugel von Tennisballgröße: den Violetten Seeigel. Seine kurzen, dichtstehenden Stacheln sind abgestumpft und zum Ende hin weiß. Ich kann ihn gefahrlos in die Hand nehmen und seine Unterseite mit dem Kieferapparat betrachten. Seeigel sind meist Pflanzenfresser; sie weiden Algen von den Untergründen oder graben organische Bestandteile aus dem Schlick oder Sand. Seeigel sind stets getrenntgeschlechtlich; sie geben Eier und Spermien ins freie Wasser ab. Die mikroskopisch kleinen Larven verwandeln sich nach vier bis sechs Wochen in einen Millimeter große Seeigel. Die allen Stachelhäuter eigenen Kalkplättchen der Haut wachsen bei den Seeigeln zu einer festen Schale zusammen. Ich fand später noch oft die wie ziseliert anmutenden, leicht zerbrechlichen Körperhüllen. Neben diesen radiär-symmetrischen Seeigeln (Regularia) gibt es die länglichen, bilateral-symmetrischen Irregularia. Bei ihnen sind die Stacheln auf pelzige Fasern reduziert. Die Afteröffnung liegt nicht entgegengesetzt der Mundöffnung (also auf der Oberseite) wie bei den Regularia, sondern auf der Mundseite. Die Irregularia, etwa der zwölf Zentimeter lange Violette Herzigel oder der fünf Zentimeter lange Kleine Herzigel, leben meist im Sand vergraben. Deshalb fallen nur die hartstacheligen Seeigel auf.

Au! Jetzt habe ich, beim Aufstützen am Grund, doch einen Steinseeigel übersehen. Der Stachel lässt sich glücklicherweise mit dem Fingernagel gleich herausschaben. Ich fotografiere die Seeigel. Manche von ihnen halten mit ihren Saugfüßen allerlei Pflanzenteile auf der Körperoberseite fest, vielleicht zur Tarnung, vielleicht als Schutz gegen zu starken Lichteinfall. Gelegentlich trägt ein Seeigel - vielleicht ist es gerade der letzte Schick - aus dem Abfall vom Meeresgrund auch einen Kronenkorken, den Ringöffner einer Bierbüchse oder er hüllt sich in Grillfolie.

Als ich nach mehreren Aufnahmen wieder einmal in die Elektronenblitz-Frontscheibe schaue, um das Aufleuchten der Bereitschaftsanzeige zu beobachten, sehe ich sofort, dass sie kaum noch lange anzeigen dürfte. Das Gerät ist zwar ein Unterwasserblitzer, doch Wasser sollte sich eigentlich nur außerhalb des Gehäuses befinden. Also zurück ans Ufer. Das Blitzgerät ist schnell demontiert. Ein bisschen Mittelmeer rinnt aus dem Gehäuse. Ich spüle mit Trinkwasser die elektronischen Bauelemente und puste größere Tropfen ab. Nötig wäre nun ein elektrischer Haartrockner, den havariegeplagte Unterwasserfotografen im Handgepäck haben sollten. Eine Havarie zu haben ist ja kein Problem, aber einen Föhn? Ich lege das Gerät zum Trocknen auf das Autodach.     nach unten     nach oben

 

Wachsrosen
Mit dem Reserveblitz und einem Kilogramm zusätzlichem Blei stapfe ich zurück ins Wasser. Die Seeigel sind nun fast schon alte Bekannte. Der Grund wird steiniger. Ein „Braunalgenrasen“, durchsetzt mit Trichteralgen, überzieht manche Blöcke und Flächen. Die erste Wachsrose kommt in Sicht. Sie ist sicher das auffälligste Tier im Flachwasser an mediterranen Felsküsten. Sanft schwingen im Rhythmus der Wellen violett abgesetzte Tentakel. Die Wachsrose ist mit einem Durchmesser bis zu 12 Zentimeter und maximal 200 bis zu 20 Zentimeter langen Armen die größte und häufigste Seeanemone des Mittelmeeres. Entgegen der Angaben vieler Bestimmungsbücher sah ich später zwischen Korsika und Sardinien öfter noch viel größere Exemplare. Einmal schienen gar halbmeterlange Tentakel wie gelbliches strähniges Wachs einen Fels herabzurinnen.

Im Körper und an den klebrigen Armen der Wachsrose befinden sich unzählige Nesselkapseln. Bei Berührung explodieren die Kapseln und schleudern einen mikroskopisch kleinen Injektionsapparat heraus. Das giftige Sekret lähmt oder tötet die Beute. Sie wird dann mit den Armen in die Mundöffnung gestopft und in einem einfachen Magen verdaut, Vorsichtshalber meide ich die Berührung mit der Wachsrose. An der Hand ist zwar die Haut zu dick, als dass Nesselkapseln sie durchschlagen könnten. Doch sicher ist sicher!

Ich fotografiere einen Wachsrosenausschnitt. Für den eingebauten 30-mm-Zwischenring ist das Motiv zu groß. Eine Streifengrundel - für die wäre meine Kameraeinstellung richtig - sehe ich leider nicht. Die Streifengrundel lebt gerne in der Nähe von Wachsrosen. Bei Gefahr kann sie sich unbeschadet zwischen oder unter die ihre Feinde abschreckenden Tentakel flüchten. Der Schutzstoff in ihrer Schleimhaut bewahrt die Streifengrundel aber nur vor den Nesselgiften der Wachsrose. Anderen im Mittelmeer lebenden Seeanemonen wie der Siebanemone, der Goldrose oder dem Seemannsliebchen fällt auch sie zum Opfer. Vor Ibiza - die Insel liegt etwa 800 Kilometer südwestlich von Korsika - beobachtete ich später eine ganz andere Situation. Da drängelten sich förmlich die Streifengrundeln unter den hier selteneren Wachsrosen.

Nur langsam wird der Film voll. Zuletzt fotografiere ich aus Mangel an anderen größeren Motiven Stillleben mit Algen und Schwämmen. Ich schwimme recht unzufrieden heimwärts. Tauchzeit 46 Minuten. Maximale Tiefe sieben Meter. In jedem Trockentauchanzugbein schwappt ein Liter Mittelmeer.

Am Abend wird es empfindlich kühl. Ich ziehe mich in das Wohnabteil des Wagens zurück, also auf den Rücksitz. Dazu: Notizbuch, Grog mit Rum aus Rostock und eine um Hüften und Beine geschlungene Decke. Nachdenklich blase ich in die dampfende Tasse. Hatte ich im Unterbewusstsein - beeinflusst von Bildberichten mit wunderschönen Drucken - die Farbpalette und Artenvielfalt tropischer Meere erwartet?     nach unten     nach oben

 

Fototechnik
In der Nacht ist ein ablandiger Wind aufgekommen. Der Morgenhimmel verspricht leidliches Wetter. Ich wandere zum Ausgang der Bucht. Von dem berühmten Fotografen Erich Salomo wird erzählt, dass er sich sogar die Kamera umhängte, wenn er im Hotel nur über den Flur zur Toilette ging. Salomo fürchtete, unwiederholbare Aufnahmesituationen zu verpassen. Ihn nehme ich mir zum Vorbild und bewaffne mich auch auf kleinen Spaziergängen mit der Kamera, einer Pentaconsix mit Normalobjektiv. Sie befindet sich in einer brotbeutelähnlichen Schultertasche einschließlich 180-mm-Sonar, Skylightfilter, Sonnenblende, 30-mm-Zwischenring, Belichtungsmesser, Staubpinsel, einem kleinen Blitzgerät, Vorsatzlinse, Reservefilmen, Notizbuch und Kugelschreiber. So habe ich die wichtigsten Utensilien beieinander, ohne durch vor der Brust pendelnde Apparate oder einen Zubehörkoffer behindert zu sein.

Am Ende der Bucht schaue ich zurück: vor mir tiefblaues Wasser, rechts eine wildbewachsene Uferbefestigung. Drei bis vier Meter tiefer verebben glucksend kleine Wellen. Links das offene Meer. Dort, wo die See am weitesten landeinwärts schwingt, am Ufer zart gelb getünchte Gebäude, umstanden von schönen alten Bäumen. Ein im Morgenlicht rostroter Strand. Dahinter steilansteigende grüne macchiabedeckte Hügel. Im Hintergrund zerfurchen Felskämme den Himmel. Ich öffne den Brotbeutel . . .

Heute steht nur Tauchen auf dem Tagesplan. Um Druckluft zu sparen - ich besitze lediglich ein Zweiflaschengerät, aber keinen Kompressor -, als erstes eine Schnorcheltour: Seeigel, Wachsrosen, Seegurken, verschiedene kleine Fische - alles keine Beute für meine weitwinkelbestückte Kamera. Ich mache lustlos einige Übersichtsaufnahmen. Unterwasserlandschaften ohne lebende Objekte wie Menschen oder auffällige Tiere wirken meist langweilig, jedenfalls ist das meine Erfahrung. Weiter seewärts, Tiefe drei Meter. Das Wasser erscheint glasklar. Ich sehe jedes Detail am Grund. Ich zucke zusammen. Zwei gelbe Augen - man könnte meinen Katzenaugen - beobachten mich aufmerksam. Unter einem Stein lugt ein Krake mit einem sicher nur handgroßen Körper hervor. Ein Winzling zwar, aber immerhin: mein erster Tintenfisch!     nach unten     nach oben

 

Tintenfische
sind keine Fische, sondern Weichtiere, Mollusken, wie auch die Muscheln. Die beiden für Muscheln typischen Schalen verkümmerten freilich bis auf zwei stabförmige Reste. Der Gewöhnliche Krake, kurz Oktopus genannt, ist der häufigste Mittelmeertintenfisch, wenigstens in ufernahen Arealen. Er bevorzugt schlupfwinkelreiche Felsregionen und Höhlen, nimmt aber auch mit Seegrasfeldern und steinigem Sandgrund vorlieb. Er gilt als intelligent und baut sich bei fehlenden Versteckmöglichkeiten selbst Höhlen und Burgen. Eingänge werden mit Steinen verbarrikadiert. Der Krake ist ein Einzelgänger. Muscheln und Krebstiere stehen an vorderster Stelle auf seinem Speiseplan. Seine größten Feinde sind Meeraale, Muränen und Menschen. Bei Gefahr stößt er eine Tintenwolke aus, um die Aufmerksamkeit des Angreifers abzulenken; sie beeinträchtigt vielleicht auch den Geruchssinn seiner Feinde. Viele einheimische Fischer halten Kraken für eine Delikatesse. Ich mußte einmal kosten und fand, so ein Stück ähnele im Geschmack und in der Konsistenz etwa paniertem Radiergummi.

Der kleine Krake äugt zu mir herauf. Ich linse zum Kraken hinab. Wir belauern eine Weile. Tintenfische können durch Ausdehnung oder Zusammenziehung in der Haut befindlicher Farbzellen binnen Sekunden ihre Färbung ändern. Diese hier trägt momentan den Safarilook. Schließlich hole ich Luft und plantsche in die Tiefe. Das Schnorcheln mit dem Unisuit, mit allen Trockentauchanzügen, ist recht mühsam, aber möglich. Man muss lediglich die Halsmanschette andersherum krempeln als üblich und sollte nur bis zu einer Tiefe von drei Meter tauchen. Als ich unten lande, ist der Kraken weg. Ich suche noch eine Weile das Gelände ab. Vergeblich.

Später dann, zwischen Korsika und Sardinien, sollte ich noch oft diesen bemerkenswerten Tieren begegnen. Es erfordert ein wenig Geduld, sie aus ihren Höhlen zu locken. Kraken sind viel zu ängstlich, um sich die vom Eingang weggeräumten Steine zurückzuholen und zu neugierig, nicht beispielsweise ein in knapper Reichweite ihrer Arme abgelegtes Tauchermesser untersuchen zu wollen. Vielleicht ist das blinkende Ding brauchbar? Unruhig zuckt der ganze Körper auf und ab wie ein zappeliges Kind auf der Schulbank, wenn es etwas weiß. In rascher Folge wechselt seine Färbung. Ein Arm schiebt sich tastend aus dem Loch. Ein zweiter folgt, der Kopf . . . Ich wage kaum zu atmen. Bloß keine hastige Bewegung. Sie ließe sich leicht als Angriff werten und könnte das Tier erschrecken. Zögernd verlässt der Krake seine Behausung. Vorsichtshalber bleiben so lange wie möglich immer noch einige Arme in der Höhle.

Aber nicht nur vor ihren Schlupflöchern konnte ich Kraken beobachten und fotografieren. Ich sah sie Felswände entlang hangeln, wobei ihre Körper die Algenfarbe annahm und auf der Haut algenähnliche Auswüchse emporquollen. Ein anderes Tier legte flüchtend die Arme parallel nebeneinander wie eine horizontale Heckflosse, während sich sämtliche Armspitzen säuberlich einrollten. Gewöhnlich ziehen schwimmend flüchtende Kraken die Arme nur wie ein Bündel Tauenden hinterher. Den Vortrieb erzeugen sie nach dem Rückstoßprinzip durch kräftiges Zusammenpressen der Mantelhöhle. Das so beschleunigte Wasser entweicht über ein bewegliches Atemrohr, den so genannten Trichter. Meist aber hangeln sich Kraken auf ihren Armen über den Meeresgrund.     nach unten     nach oben

 

Seegurken
Doch zurück nach Argentella. Ich finde den Tintenfisch nicht mehr und fotografiere dafür Schwämme, Algen und Moostierchenkolonien. Nach einer knappen Stunde lege ich eine Pause ein und bleibe gleich im Anzug. Schnell ein Stück trocknes Brot gegessen. Film- und Objektivwechsel. Etwa 30 Minuten später buckele ich wieder das Tauchgerät.

Die Fauna scheint mir fast schon vertraut: Seeigel, Grundeln, Schleimfische, Wachsrosen. Und überall die runzligen 20 bis 30 Zentimeter langen Seegurken. Manche schimmern schwarz; die meisten aber sind braun oder durch am Körper haftende Partikel des Grundes grau und fleckig wie Schimmel. Die Seegurken oder Seewalzen gehören zum Stamm der Stachelhäuter. Ihre Artgenossen, die Seeigel, besitzen ein kalkiges Außenskelett. Den Seegurken bleiben lediglich Kalkkörperchen auf der weichen Haut. In manchen exotischen Abenteuerromanen ist von Trepang die Rede. Trepang ist nichts anderes als der in Streifen geschnittene und getrocknete Körper bestimmter Seegurken.

In den Wasserlungen und Leibeshöhlen von Seegurken der Gattungen Holothuria und Stichopus hausen manchmal Nadelfische. Die bis zu 20 Zentimeter langen Tiere sind echte Parasiten und fressen die Innereien der Seegurken. Wird die Duldsamkeit oder Regenerationsfähigkeit durch zu viele Plagegeister überschritten, schleudert die Seegurke ihre Eingeweide samt Nadelfischen heraus und beginnt, sich ein neues Innenleben aufzubauen. Aufgeregt sausen die Nadelfische durch das Wasser zu einer anderen Seegurke. Durch Abtasten und am Atemwasserstrom finden sie die Afteröffnung heraus und schlüpfen in ihr neues Wirtstier. Die Jungen der Nadelfische benötigen zu ihrer Entwicklung die Geschlechtszellen der Seegurke als hochwertiges Kraftfutter.

Die Seegurken sind genügsamer. Sie kriechen schneckenlangsam über die Gründe und schaufeln mit einem die Mundöffnung umsäumenden Tentakelkranz organische Nahrungspartikelchen enthaltenen Sand und Schlamm in sich hinein. Aber die scheinbare Bewegungslosigkeit erleichtert das Fotografieren kaum - denn wie, bitte schön, arrangiert man ein schönes Bild mit einem „schimmeligen Würstchen“?

Zuletzt schwimme ich entlang dem für einen Nachteinstieg geplanten Kurs. Landmarken und Unterwasserkompass sind die wichtigsten Orientierungshilfen. Ich präge mir die ungefähre Topografie ein. Es beruhigt, nachts auch nicht noch mit unbekannten Hindernissen, Fischernetzen, Strömungen, plötzlichen Steilabfällen und anderen gewöhnlich nur eingebildeten Gefahren rechnen zu müssen. Als ich mir endlich den Tauchanzug vom Leib zerre, ist es später Nachmittag. Ich war fast drei Stunden im Wasser. Mein Magen ist leer wie eine leere Tüte.     nach unten     nach oben

 

Nachteinstieg
Ein nächtlicher Einstieg hat mindestens drei Vorteile: Der Taucher sieht eventuell tagsüber verborgen lebende Arten, andere Tiere schlafen oder ruhen und sind eher zu überraschen. Und schließlich verharren manche Fische wie erstarrt im Scheinwerferlicht und lassen sich so leichter fotografieren.

Um halb acht Uhr bin ich erneut ausgerüstet und stiefele mit angenehmsten Erwartungen in die See. Wenigstens nachts sollten doch einige ungewöhnliche Schnappschüsse möglich sein. Der Schein meiner wasserdichten Taschenlampe irrlichtert über den spärlich bewachsenen Grund. Außer den obligatorischen Seeigeln und Seegurken ist weit und breit kein Tier in Sicht. Ich schwimme in Richtung des südlichen Felsufers der Bucht. Die ersten Steinblöcke recken ihre fahlen Gesichter aus dem Dunkel. Der Zeiger des Tiefenmessers nähert sich der 3-Meter-Marke.

Ich taste mit dem Lichtkegel systematisch die voraus liegenden Regionen ab. Zwei smaragdgrüne Punkte leuchten auf: die Augen einer großen Grundel. Ich richte den Schein auf den am Fuße eines Steinblocks liegenden Fisch. Grundeln besitzen zwei deutlich getrennte Rückenflossen. Sie sind auch an der typisch keulenförmigen Gestalt leicht zu erkennen, jedoch oft schwer genauer zu bestimmen. Im Mittelmeer leben etwa 25 Arten. Viele Grundeln sind recht bequeme Gesellen. Meist liegen sie träge am Grund herum. Nur wenn man ihnen zu nahe rückt, raffen sich die Tiere zu einem blitzschnellen Satz von allenfalls einem Meter Weite auf. Faultiere könnten von ihnen noch lernen. Die größte Grundel des Mittelmeeres ist mit maximal 28 Zentimeter Länge die Große Meergrundel.

Eigentlich müssten hier auch Schleimfische zu finden sein. Ich sah sie bei Tageslicht oft genug. Im Flachwasser mediterraner Felsküsten - ebenso im Schwarzen Meer und im mittleren Ostatlantik - gibt es ohnehin nur wenige Areale, in denen sich die neugierigen Tiere nicht tummeln. Alfred Brehm bezeichnete sie einst als „Gassenjungen des Meeres“. Ich lasse den gelblichen Lampenschein über den Steinblock wandern, dann über den nächsten. Liegen die Schleimfische in ihren Verstecken und schlafen? Halt! Da war doch etwas. Tatsächlich: Aus einem Spalt im Steinblock äugt - der besseren Übersicht halber auf die Brustflossen gestützt - einer der possierlichen Schleimfische. Ihr Name bezieht sich auf ein wichtiges Merkmal dieser Tierfamilie, der Blenniidae: die den schuppenlosen Körper bedeckende dicke Schleimschicht. Die Mittelmeerfauna umfasst etwa 20 überwiegend finger- bis handlange Arten. Die meisten Schleimfische tragen auf der Stirn ein Paar ausgefaserte Hautläppchen (Tentakel). Die fehlende Schwimmblase erschwert ihnen den Aufenthalt im freien Wasser. Schleimfische leben gewöhnlich in Schlupfwinkeln oder deren Nähe - und seien es leere Büchsen oder Flaschen. Der „Blenni“ hier ist aber zu klein für mein Objektiv, als dass sich eine Aufnahme lohnte. Weiter also.

Fünf Meter Tiefe. Ich schwenke fleißig die Lampe. Von Zeit zu Zeit beunruhigt mich das Spiel der dem Licht hinterherhuschenden Schatten: unstete Bewegungen, deren Konturlosigkeit wie immer genug Raum für eine Vielzahl von Missdeutungen gewährt. Ein roter Fleck leuchtet auf wie ein Stopplicht. Ich schwimme näher. Das strahlende Gebilde erweist sich als eine Purpurseescheide, neben der Glaskeulenseescheide eine der schönsten Ascidien im Mittelmeer. In der Anatomie der Seescheiden (Ascidiacea) finden sich Anklänge an die Entwicklung der Wirbeltiere. Ihre freischwimmenden Larven besitzen ein Neuralrohr und eine Chorda. Die Chorda ist ein Stützstab, um den herum sich bei höheren Wirbeltieren die Wirbelsäule ausbildete. Ihre Reste sind bei den Wirbeltieren als Zwischenwirbelscheiben noch erkennbar. Während der Umwandlung der Ascidienlarven zu den sesshaften Alttieren geht die Chorda freilich wieder verloren.

Ehe ich weiter in die nächtliche See hinausschwimme, lasse ich - in unbequemster Verrenkung, um die Purpurseescheide recht ins Bild zu setzen - den Blitz zweimal aufleuchten. Dann finde ich wieder über weite Strecken kein Lebewesen. Dagegen erscheint ja die heimatliche Ostsee wie ein Zoo! Endlich ein junger Lippfisch - ich knipse ihn auf der Wiese eines mit Trichteralgen und Cystoseira (in den obersten Wasserschichten häufige, lichtbedürftige Braunalgen) bewachsenen Hanges.     nach unten     nach oben

Ich schalte das Licht aus. Über mir schimmert bleigrau und gebuckelt die Oberfläche, an der das verzerrte Oval des Mondes schwimmt. Ringsum sehe ich etwa so viel wie nachts im Tannenwald: Es ist nicht völlig dunkel, dennoch sind kaum Details zu erkennen - aber man spürt fast physisch Konturen und hört den „Atem“ der Bäume. Auch das Meer zischelt, wispert und knackt geheimnisvoll. Misstrauisch versuche ich die Finsternis zu durchdringen. Was an optischer Wahrnehmungsfähigkeit verlorengeht, ersetzt rasch die Fantasie mit allerlei Chimären. Mein Kopf pendelt wie ein Abtastradar. Fürchte ich aus dem Dunkel herangleitende Untiere? Nonsens! Aber ist es das wirklich? Beklemmend wird mir plötzlich bewusst, dass ich in einer menschenverlassenen Bucht ganz allein am Grund des Mittelmeeres hocke. Bloß wieder Licht. Der Schalter knackt. Ich lasse die Lampe kreisen - und brummele überrascht in das Mundstück. Was ist das?

Der Lichtstrahl erfasst ein stacheliges und überall mit kleinen Warzen bedecktes Tier von enormen Ausmaßen. Ich traue meinen Augen kaum. Ein grün-braun gefärbter Eisseestern von mindestens einem halben Meter Durchmesser! Mit den Zwischenringen hinter dem Objektiv erhalte ich jedoch nur einen Ausschnitt von dem größten der europäischen Seesterne. Egal. Wer weiß, ob es noch etwas anderes zu fotografieren gibt; und mit dem angefangenen Film möchte ich nicht noch einmal ins Wasser. Ich belichte Bild um Bild, während das Tier dem Lampenstrahl zu entkommen sucht.

Kurz nach 21 Uhr sitze ich wieder im Auto. Kamera und Tauchausrüstung sind verstaut. Es herrscht eine Temperatur von etwa 15 Grad Celsius. Angenehm, sich nicht gleich in eine Decke wickeln zu müssen. Die milde Luft, sanft rauschendes Wasser und das stille Mondlicht verleiten zum Sinnen. Ich schlürfe bedächtig meinen Schlummergrog und denke an den letzten Tauchgang. In den 30 Minuten sah ich nur sehr wenige Tiere. Eine Folge der Meeresverschmutzung?     nach unten     nach oben

 

Meeresverschmutzung
Immerhin hat im letzten Jahrzehnt, ebenso wie Nordsee und Ostsee, besonders das Mittelmeer als „Müllgrube Europas“ herhalten müssen. Alle Anrainer versenken ausnahmslos feste und flüssige Abfallstoffe ins Meer - eine besonders billige Form der Beseitigung. Die Mengen differieren freilich je nach dem wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungsstand der Länder. Behauptet wurde, dass Strömungen, Wellenschlag und Absinkvorgänge die Stoffe weiträumig vermischen und dadurch auf unschädliche Konzentrationen verdünnen. Dies erwies sich als Trugschluss.

Italien ist die größte südeuropäische Industrienation. Es hat eine geschlossene Küstenlinie von über 8000 Kilometer und in jedem Jahr mehr als 40 Millionen Urlauber. Es besitzt jedoch auch in absehbarer Zeit nicht die finanziellen Mittel, diese Situation wesentlich zu ändern. Tag für Tag ergießen sich also weiterhin die Fäkalien der meisten italienischen Küstenstädte mit ihren Krankheitserregern ins Meer, werden - entgegen den gesetzlichen Bestimmungen noch viel zu wenig - Strände für den Bade- und Wassersportbetrieb gesperrt und es beginnt durch die Überdüngung fast jedes Jahr im Herbst das Fischsterben in der nördlichen Adria.

Heimtückischer noch wirken die Industrieabwässer mit ihren nicht oder nur sehr langsam biologisch abbaubaren schädlichen Bestandteilen wie Schwermetallsalzen von Quecksilber, Blei, Chrom, Cadmium, Nickel und Arsen. Sie werden von den Meerestieren aufgenommen und gelangen direkt oder über die Nahrungskette auf den häuslichen Tisch. Schäden beim Menschen an den Nervenzellen, im Gehirn und Knochenbau, im Magen-Darm-Trakt, in Leber und Nieren sowie Krebs erregende Wirkungen und Erbschäden sind nachgewiesen. Vor Alicante, Marseille, Athen, Ismir, Haifa und vor mehreren italienischen Küstenstädten wurden in den letzten Jahren bereits bedenklich hohe Metallkonzentrationen gemessen. Zu den Metallen gesellen sich unter anderem jährlich etwa 50 000 bis 100 000 Tonnen Erdöl durch Verluste bei Transport und Verarbeitung, dazu die sich wie ein Leichentuch über alles Leben - und dieses erstickend - am Meeresgrund ausbreitenden Rückstandsschlämme der Aluminiumproduktion, die Insekten- und Unkrautvernichtungsmittel, die mit den Flüssen und dem Grundwasser ins Meer geschwemmt werden, sowie polychlorierte Kohlenwasserstoffe der Elektroindustrie.

Liegt das Mittelmeer nun auch hier - weitab vom Festland und vor einer Insel ohne nennenswerte Industrie - bereits im Sterben? Ich lege die Zeitschrift mit den alarmierenden Angaben beiseite und lösche das Wagenlicht.     nach unten     nach oben

 

Calvi
Als meine Brot- und Druckluftvorräte aufgebraucht sind, fahre ich nach Calvi, einer alten und mit ihren Palmen und Treppengassen fast afrikanisch anmutenden ehemaligen Festungsstadt Genuas. Es liegt bis zu 81 Meter über dem Meer auf einer Landspitze des Balagne-Gebirges. Von welcher Seite man sich auch Calvi nähert, stets beherrschen die wuchtigen Mauern der im 13. Jahrhundert zur Festung ausgebauten Zitadelle das Bild der Stadt. Sie erwarb sich im Lauf der Geschichte den Ruhm der Uneinnehmbarkeit. Der britische Admiral Nelson ließ 1794 das derzeit den Franzosen treue Calvi mit 4000 Kanonenkugeln zertrümmern. Nelson verlor dabei sein linkes Auge, Hunderte von Menschen aber ihr Leben; doch gesiegt hat er nicht, der Admiral.

Auf den ersten Blick erscheint das rund 2500 Einwohner beherbergende Calvi wie ein idyllisches Städtchen, zumal die Hauptwelle der Touristen schon wieder heimgeflutet ist. Aber das schräge, streifige Licht der Herbstsonne demaskiert unbarmherzig die Gassen, Durchgänge und Treppen: Stockflecken, Moder, grindiger, bröckelnder Putz. Aber je dichter man sich dem heutigen Zentrum Calvis nähert, dem Areal um die Hafenpromenade der Unterstadt, desto mehr Farbtupfer übertünchen die Tristesse: die bunten Auslagen der Geschäfte, die Souvenirvitrinen und Boutiquen, Blickfänge von Gaststätten. Die Läden haben bereits geöffnet. Einige Touristen, zu erkennen an ihren Kameras und Kleidern, Kinder und schwarzgekleidete alte Leute beherrschen das Straßenbild. Das wird sich auch am Abend kaum ändern. Überall fehlen Arbeitsplätze. Etwa 95 000 gebürtige Korsen leben deshalb auf dem Festland. Sie besuchen oft nur einmal im Jahr die Insel, die heimatlichen Dörfer, um hier ihre Ferien zu verbringen. Erst mit Erreichen des Rentenalters kehren die meisten endgültig zurück und setzen sich aufs Altenteil. Deshalb besteht heute fast die Hälfte der korsischen Bevölkerung aus Pensionären.

An der Hafenpromenade entdecke ich Calvi-Bateaux, ein Wassersportgeschäft. Ich frage nach Druckluft. Ja möglich: elf Franc (damals etwa 2,5 Euro) für anderthalb Kubikmeter, also eine Flaschenfüllung. Damit ist der Nachschub an Pressluft gesichert. Morgen also die nächsten Tauchgänge mit dem Atemgerät.

Freilich hatte ich die Rechnung ohne Petrus gemacht. Nachts tobt ein schauerliches Unwetter. Wind rast heulend über die Insel. Regen peitscht die Erde. Blitze zucken gespenstig. Der Wagen wankt unter dem Ansturm der Elemente. Nach vielleicht einer Stunde lässt das Toben nach. Ich versinke in einen unruhigen Schlaf. Einer der letzten Gedanken: Tauchen ade! Hätte ich doch bloß den schönen Tag wenigstens zum Schnorcheln genutzt! Befreundete Taucher kamen auf Sardinien wegen der Stürme fast drei Wochen lang nichts ins Wasser.     nach unten     nach oben 

 

Golfe de Porto
Am nächsten Morgen schwarzer Himmel, Wind und hohe Wellen. Mindestens 200 Meter landein gefegte Gischt. Ich lenke das Auto weiter nach oben und frühstücke. Immer noch sprüht Seewasser an die Fenster. Gegen elf Uhr verlasse ich das Camp und fahre über die Küstenstraße nach Galéria, einem Fischerhafen am Golfe de Galéria. Ein stilles abgelegenes Dörfchen. Pensionen, Hotels und Zeltplätze verraten, dass zumindest in der Saison mehr die Badegäste die Einkünfte sichern als der Fischfang. Die Küstenstraße endet nach dem Passieren des Ortes direkt am südlichen Ende des Golfes. Man könnte hier mit der Taucherausrüstung bequem über eine kleine Treppe ins Wasser steigen. Aber die See ist viel zu rau. Also weiter in Richtung Porto. Kaum Verkehr. Manchmal führt die schmale Straße kilometerweit landein, dann über eine Brücke wie aus Napoleons Zeiten und zurück zum Meer. Terraingewinn entlang der Küste nur wenige hundert Meter; aber dazwischen lag eben ein Tal oder eine weit ins Land reichende Bucht. Etwa anderthalb Kilometer östlich des Aussichtspunktes Bocca â Croce ein Schild nach rechts: La mer. Also ans Meer. Durch das kleine Dorf Osani geht es über eine abenteuerlich schmale und steile Straße hinab direkt an den Strand am Golf de Porto. Hohe Felsen rahmen die Bucht. Im Hinterland ist Platz für einige Zelte und Caravans. Ein Bach mit Süßwasser zum Spülen der Tauchgeräte. Eine schiefe, rohgezimmerte „Snackbar Chez Doumeé“, natürlich geschlossen. Ein herrlicher Platz zum wilden Kampieren und sicher auch zum Tauchen. Aber Tauchen ist bei der aufgewühlten See unmöglich. Ich fahre auf einen windgeschützten Stellplatz für die Nacht.

Kälte ist immer noch der beste Wecker. Ein Temperaturabfall auf wenige Grade über Null jagt mich am Morgen beizeiten aus dem Schlaf. Ich laufe hinab ans Wasser. Meterhohe Dünungswellen schlagen an die Klippen und machen das Tauchen zu einem gefährlichen Abenteuer. So beschließe ich endgültig eine Korsikarundfahrt zu unternehmen: quer über die Insel bis an die Ostküste, dann nach Süden und zurück entlang der Westküste wieder bis hierher in diese Bucht.

Bei Porto verlasse ich das Meer und folge dem Verlauf der Straße in die Berge. Der Wind legt sich. Der Himmel wird zusehends lichter. Die Sonne scheint. Vor Ota, an einsamer Landstraße, stehen am Berghang viele Familiengrüfte. Manche sind prächtig gebaut, mit exotischen Bäumen umstanden und erinnern an Mausoleen. Andere, die Mehrzahl, sind bescheidener, mit passabler Fassade, aber dahinter nur ein kleiner Anbau. Für die Korsen war der Besitz einer Familiengrabststätte von großer Bedeutung. Die Ursache liegt in der korsischen Geschichte begründet: Das Leben der Inselbewohner war in all den wirren Zeitläufen oft freudlos, voller Mühsal, Sorgen und Gefahren. Der Tod das einzig sichere.     nach unten     nach oben

 

Ota bis Solenzara
Ota ist ein Bergdorf mit etwa 40 überwiegend zwei- bis dreistöckigen Häusern, wie häufig auf Korsika. Diese Bauweise erlaubt, mehrere Generationen unter einem Dach zu vereinen, spart bei gleicher Wohnfläche Platz und Baumaterial und gleicht besser die täglichen Temperaturschwankungen aus. Von weitem sieht Ota aus, als seien Spielzeughäuschen an die Südwand eines gewaltige Bergkessels geklebt, der Gorges de Spelunca. Bis zu 1000 Meter hohe Felswände säumen das Tal, an dessen Grund das Flüsschen Porto hinabjagt zu dem gleichnamigen Golf. Der Blick in den mehrere Kilometer breiten Kessel ist großartig, beeindruckend, wie die meisten Landschaften auf Korsika. Doch wie das Zusammenwirken von Baumgruppen, Gebüsch, Macchia und nacktem Fels schildern? Wie den unsteten Wolkenzug, das wechselnde Lichterspiel auf den Hängen, das Gefühl von Einsamkeit angesichts dieser Weite und Kargheit oder wie gar den Duft - als habe ein Gewürzkrämer sämtliche Schubladen geöffnet - beschreiben? Wie all das fotografieren?

Kurz vor dem Pass Col de Vergio ein gefährlicher Zwischenfall: Ein mir entgegenkommendes Auto gerät ins Schleudern und überschlägt sich. Glücklicherweise kommt niemand zu Schaden, weder der Fahrer noch sein Hund. Wir schieben das schrottreife Vehikel an den Straßenrand. Die nächsten Kilometer fahre ich sehr behutsam . . .

Col de Vergio, Aussichtspunkt in 1484 Meter Höhe. Schneidender Wind. Vor einer Stunde noch schwitzend im T-Shirt, wate ich nun durch knöcheltiefen Schnee. Aber das Panorama entschädigt, wie schon viele Male, für alle Strapazen. Ich schaue vom Pass weit hinab ins Land. Von hier aus erstreckt sich nach Nordosten die Niolo, eine raue Alm- und Waldlandschaft mit alpinem Klima, nur von sechs Dörfern besiedelt. Die nordwestliche Seite der Niolo beherrschen die immer schneebedeckten Zwei- und Zweieinhalbtausender der Monte-Cinto-Gruppe. Der Monte Cinto selbst ist mit - je nach Karte - 2706 oder 2710 Meter die höchste Erhebung Korsikas. Aber welcher der weißen Gipfel ist das?

Nach einigen Kurven führt die Straße fast gerade und mit mäßigem Gefälle bergab. Ich lasse den Trabant rollen. Die Laricokiefern bleiben zurück, die Macchia, die Kastanienwälder. Hinter Calacuccia ein den Golo zügelnder Staudamm. Die Felswände rücken immer enger zusammen. Das Asphaltband krümmt sich zu Mäandern. Ich durchquere die „Höllenschlucht“ Scala di Santa Regina, eine der Touristenattraktionen auf Korsika. Sie erschreckt durch ihre Trostlosigkeit. Bis zu 500 Meter aufragende nackte Felswände, die sich dicht gegenüberstehen und zwischen denen der Golo - er schuf diese Schlucht - in schäumenden Wirbeln und Kaskaden nach Nordosten hinab zur Küste stürmt. Ein Grand Cañon en miniature.

Kurz vor Francardo erlauben die Straßenverhältnisse erstmals wieder eine „höllische Raserei“. Ich fahre mit 50 Kilometer/h! Bei Casamozza, fast an der Ostküste, gabelt sich die Chaussee. Ich fahre in Richtung Süden. Die Berge bleiben zurück. Das Land wird flach und - nach den Eindrücken aus den Felslabyrinthen - sanft, brav. Die nun gut ausgebaute Straße führt entlang der Küste. Ortschaft reiht sich an Ortschaft. Traubengefüllte Kipper tuckern zu den zahlreichen Kelter- und Destillierfabriken. Es ist die Zeit der Spätlese. Saftige rote Trauben! Mein Organismus reagiert wie bei Pawlow der Hund. Zwei ziemlich abgerissene Typen, die mit zufriedenen Mienen aus einem Weinfeld kommen, geben den Ausschlag. Eine halbe Stunde später biege ich wieder auf die Hauptstraße.

In der Gegend um Solenzara ragen erneut Berge empor. Die Straße schlängelt sich um die Felsen, die bis an die Küste herantreten. Porto-Veccio. Der Ort ist berühmt durch seine Korkeichen und den Handel mit bearbeitetem Kork. Die Bäume dürfen nur alle zehn Jahre geschält werden. Danach, ohne Rinde, machen sie einen traurigen Eindruck. Porto-Vecchio besitzt unter anderem eine Zitadelle aus dem 16. Jahrhundert, feinsandige Strände und rund 7000 Einwohner. Als ich in den Ort fahre, sind scheinbar alle 7000 unterwegs. Ich kämpfe mich durch dichtesten Verkehr rasch wieder hinaus. Kurz vor Bonifacio findet sich ein verstecktes Übernachtungsplätzchen.     nach unten     nach oben

 

Wirtschaft, Familie und Politik
Es liegt nicht nur an der merklichen Abendkühle, dass sich der Schlaf schwer einstellt. All die herrlichen wilden Landschaftsbilder wirbeln durch meine Sinne. Nun glaube ich, einige Probleme Korsikas besser zu verstehen: wenig land- und forstwirtschaftliche nutzbare Flächen, eine ungenügende Energieproduktion und so gut wie keine Industrie. Die Insellage verteuert alle Ein- und Ausfuhren. Die Höfe korsischer Bauern liefern ihren Besitzern kaum das Existenzminimum. Schwerpunkt der Landwirtschaft ist immer noch die Viehzucht, eine reine Weidewirtschaft mit Schafen und Ziegen. Die Tiere streifen oft frei umher, richten umfangreiche Forst- und Weideschäden an; deshalb ist nur eine mäßige Nutzung der ohnehin spärlich vorhandenen Flächen möglich.

Den jüngeren Leuten sagt das unkomfortabele, bescheidene Dasein meist nicht zu. Sie verlassen die Dörfer, die Insel gar, um anderswo ihr Auskommen zu suchen. Dutzende von Landschulen wurden geschlossen. Dabei wäre es gerade die Jugend, die am ehesten die halbfeudalen Produktionsverhältnisse modernisieren könnte. Aber das Landesinnere entvölkert sich immer mehr. Überall sah ich aufgegebene Häuser, Höfe, Güter . . .

Zuwanderungen, wie etwa die der 10 000 „Pieds noirs“ (Schwarze Füße), ehemalige Siedler aus Algerien, veränderten kaum die Situation. Die Korsen beobachteten misstrauisch diese mit erheblichen Subventionen geförderte Ansiedlung. 1975 gab es die ersten blutigen Zusammenstöße. Die eindeutig rassistisch geprägte und vielleicht auch von rechtsradikalen Kräften unterwanderte „Front zur Befreiung Korsikas“ (FLNC) der Separatisten sprach vom Völkermord durch Verdrängung. Ihre Hauptparole: „Franzosen raus aus Korsika!“ Die FLNC half gerne etwas mit Bomben nach. Sie wurde Ende 1982 nach Attentaten in Ajaccio verboten. Andererseits ist beispielsweise für den intensiven Weinbau und die Winterbearbeitung der Getreide- und Frühgemüsekulturen - erste Anzeichen des einsetzenden landwirtschaftlichen Strukturwandels - alljährlich die Hilfe mehrerer tausend Italiener notwendig.

Das ferne regierende Paris nahm bisher kaum Rücksicht auf die nationalen Besonderheiten Korsikas. Doch die Korsen sind ein Volk mit eigener Geschichte, eigenem Brauchtum und eigener Sprache, einem toskanischen Dialekt. Da der jeweils herrschende Staat fast nie ein korsischer war, misstrauten die Korsen stets dessen Gesetzen. Sie unterstützten den Staat nicht, sondern lebten nach eigenem Stammesrecht. Die Abgeschlossenheit und Unzugänglichkeit der Insel begünstigte das Weiterbestehen patriarchalischer Sippen und Clans bis in die Gegenwart.

Einer der typischsten mentalen Züge der Korsen ist die Bindung an die Familie. Nur durch den Zusammenhalt in Großfamilien und Clans vermochten die Korsen als Volk all die wirren Zeitläufe zu überleben. Der Clan ist die Gruppe von Familien eines Dorfes oder eines Tales oder irgendeiner anderen geographisch geschlossenen Einheit. Was der Älteste, der Patriarch einer Sippe oder der Chef eines Clans, anordnet, ist Gesetz. Frauen haben generell nichts zu sagen, junge Leute sich unterzuordnen. Durch die Clans entstand in den Gemeinden praktisch ein Parallelsystem zur staatlichen französischen Verwaltung.

Noch heute geht fast nichts ohne Zustimmung der Clans. Dass die durchweg konservativen Herren aber nicht für demokratische Reformen, landwirtschaftliche Genossenschaften oder gar sozialistische Ideen eintreten, wundert nicht. Doch 1977 gelang es bei Gemeindewahlen jungen fortschrittlichen Kräften erstmals, die Vorherrschaft eines lokalen Clans zu brechen; eine Ausnahme zwar, aber auch ein neuer Anfang. Der Wahlsieg eines sozialistischen Staatspräsidenten im Mai 1981 bedeutete eine weitere Hoffnung für Korsika. Im Rahmen des für ganz Frankreich vorgesehen Dezentralisierungsprogramms Mitterands erhielt Korsika 1982 als erstes Departement ein Autonomiestatut und eine Nationalversammlung mit 61 Volksvertretern, ohne freilich ganz in die Unabhängigkeit entlassen zu werden. Aber das forderte nicht einmal die UPC, die Union des korsischen Volkes und älteste Organisation der Autonomisten. Außenpolitik, Verteidigung und Währungsangelegenheiten sollen die Sache Frankreichs bleiben.

Noch vor Jahren hieß es in Anspielung auf den Flugtourismus: „Korsikas Rettung kommt aus der Luft!“ Jedes Jahr kommen weit über eine Million Menschen. Die konservative Regierung Frankreichs hatte lange zur wirtschaftlichen Verbesserung Korsikas vor allem auf die Karte Tourismus gesetzt. In den siebziger Jahren arbeiteten zeitweilig ein Drittel aller berufstätigen Korsen im Dienstleistungsgewerbe; Anfang der achtziger Jahre bereits jeder zweite. Aber die Tourismusförderung ist keine befriedigende Lösung: Die Beschäftigungslage ist saisonabhängig. Es werden nur die Küsten erschlossen. Von dem auf Korsika ausgegebenen Geld bleibt zu wenig auf der Insel. Welche Zukunft gibt es also für Korsika? Es ist noch immer alles offen . . .

Als die Nacht endet trage ich unter dem viel zu dünnen Schlafsack drei Hosen, Pullover und Anorak. Das Thermometer steht auf zwei Grad Celsius. Auch auf Korsika bedeutet ein sternenklarer Himmel ebenso schöne warme Tage wie kalte Nächte.     nach unten     nach oben

 

Bonifacio
In Bonifacio parke ich direkt am Hafenbecken unterhalb der Festung. Parkplätze sind jetzt kein Problem. In der Saison wäre hier alles mit Autos vollgestellt.

Bonifacio: „Eine der malerischsten und originellsten Städte Europas, vom Volksmund schwarze Perle' genannt“, schwärmt mein Grieben-Reiseführer. „Die alte Feste liegt dreiseitig meerumgeben und von Sardinien durch eine 12 Kilometer breite Meerenge getrennt, auf einem 64 Meter hohen und 1500 Meter langen uneinnehmbaren Kalksteinfelsen, der gleichzeitig den buchtartigen Naturhafen schützt. Die Bonifacios sind fleißige Seeleute, Fischer und Bauern. Doch das Leben hier ist hart, die Erträge bleiben karg, so dass die Bevölkerung immer noch abnimmt. Die Genuesenstadt auf dem Felsen blieb für die Korsen lange Zeit ein Fremdkörper ... Zwei berühmte Männer hat Bonifacio beherbergt. Als Kaiser Karl V. 1550 von einem Feldzug aus Nordafrika heimsegelte, zwang ihn ein Sturm, im Hafen von Bonifacio Schutz zu suchen; das Haus, in dem er abstieg, wird heute noch gezeigt. Napoleon Bonaparte befehligte 1793 als junger Offizier einige Monate lang die Besatzung der Festung und wohnte in der Zitadelle.“ Den Militärs haben die strategisch günstige Lage der Festung und ihre dicken Mauern derart gefallen, dass sie immer noch die historischen Stätte der Kriegsgeschichte besetzt halten. Jetzt hat dort die Fremdenlegion ihren Standort.

Romantisches Bonifacio? Ich weiß nicht. Verträumte Winkel sind nur ein Teil der Realität. Weitaus stärker noch als in den Nebenstraßen Calvis überwiegen in Bonifacio Verfall, Schimmel, modernde Bausubstanz. Hier und da aufgegebene Wohnungen, verbarrikadierte Portale. Ausdünstungen von Fäulnis, Spülwasser und Urin nisten in den engen Gassen. Manche Häuser scheinen stützend aneinanderzulehnen, Assoziationen an ein Kartenhaus erweckend. Zöge man ein Blatt hervor . . . Romantisch mag die Altstadt nur dem flüchtig schauenden Touristen erscheinen. Und doch beeindruckt vor allem die einmalige Lage: hoch oben auf weißem Gestein, schwebend zwischen der Bläue von Wasser und Himmel.

Bonifacio ist das südlichste Städtchen Korsikas. Doch die südlichste Grenzmarke der Insel - und damit ganz Frankreichs - ist nicht sein Südkap Pertusato, sind nicht die Iles Cavallo, nicht die drei bis vier Kilometer südöstlich Korsikas liegenden Iles Lavezzi. Es ist eine Untiefentonne in der Straße von Bonifacio mit der Aufschrift „Lavezzi Sued“.     nach unten     nach oben

 

Lavezzi
Etwa anderthalb Jahre nach jenem Rundgang durch Bonifacio passiert ein Konvoi von vier Motorschlauchbooten - aus Richtung Sardinien kommend - jenes gelbschwarze Seezeichen. Die Boote sind mit Tauchgeräten, Kameras und Sporttauchern aus drei Staaten beladen. Ich habe das Glück, auf Einladung einer meeresbiologischen Forschungsgruppe als Unterwasserfotograf mit an Bord einer der Fahrzeuge zu sitzen. So kann ich auch Lavezzi besichtigen und ganz im Süden Korsikas tauchen.

Die Führung hat das englische Schlauchboot mit Jeanne und Keith Nicholsen übernommen; beide hochdekorierte „Diving Officers“ im British Sub-Aqua Club, der größten westeuropäischen Sporttauchervereinigung. Die Nicholsens betrieben einige Jahre eine kommerzielle Tauchbasis auf Sardinien. Sie kennen daher See und Tauchgründe wie unsereins die heimischen Gewässer.

Die Iles Cavallo und Lavezzi sind die größten Inseln des unbewohnte kleinen korsischen Archipels. Lavezzi hat eine Ausdehnung von etwa 1,5 Kilometer. Fjordartige Buchten zerklüften die aus hellgrauem Granit bestehenden Eilande. Ihre Ränder säumen zahllose Riffe und Felsnadeln. Wehe dem Schiff, das da bei Sturm hineingerät! Auf dem wie ein Flugzeugträger aus dem Meer ragenden Felsen namens Accianno steht eine 13 Meter hohe Gedenkstele. Das steinerne Mahnmal und zwei Friedhöfe auf Lavezzi erinnern an das tragischste Schiffsunglück in diesem Gebiet: den Untergang der Sémillante. Im Februar 1855 zerschellte die französische Fregatte während eines Jahrhundertorkans an den Klippen von Accianno. Die gesamte Besatzung - es waren 695 Mann - kam ums Leben. Viele Tage lang wurden verstümmelte Tote an die Strände gespült, wehte der bittere Geruch verwesender Leichen über die Insel. 560 Seeleute fanden auf Lavezzi ihre letzte Ruhestätte. Auf dem Meeresgrund liegen heute noch Überreste der Sémillante.

Wir landen nur, um auf festem Boden in die Tauchausrüstung zu schlüpfen. Dann brummen die Boote wieder hinaus auf die See zur Secca Lavezzi, der Untiefe nördlich des gelbschwarzen Seezeichens. Keith findet nach einigem Suchen einen geeigneten Ankerplatz, einen bis zwölf Meter unter die Oberfläche aufragenden Felsen. Ansonsten fällt hier die See ab bis auf Tiefen von 40 Meter. Die Straße von Bonifacio ist nicht nur wegen der Windeinbrüche berühmt und berüchtigt, sondern auch wegen der Strömungen. Aber wir haben Glück: Heute ist lediglich eine geringe Wasserbewegung zu erkennen. Die letzten Handgriffe vor dem Einstieg erfolgen unter den wachsamen „Fernrohraugen“ der Kontrollbootbesatzung irgendeiner französischen Behörde. Die Unterwasserlandschaften vor Lavezzi wurden vor etlichen Jahren zu Naturschutzzonen erklärt. Jede bewusste schädigende Aktion, wie das Harpunieren oder Sammeln mariner Organismen, ist hier bei Strafe verboten. Wir hoffen auf eine vielfältige Meeresfauna und stürzen erwartungsvoll ins Wasser.

Die Sicht ist fantastisch. Tief unten im blauen Dämmer die rundliche Felskuppe, von Spalten zerfurcht, mit jähen Abstürzen. Hunderte von Mönchsfischen flitzen gleich Schwalben um den Gipfel. Ich klinke meine außenbords hängende Unterwasserkamera ab und schwimme am Ankerseil entlang in die Tiefe, um den Ankersitz zu kontrollieren. Hier ist auch der Treffpunkt unserer Gruppe.

Der erste Eindruck: Alles scheint eine Nummer größer als gewöhnlich zu sein, der Bewuchs auf den Steinen, die Schwämme und Schnecken, die Blumentiere und Fische. Wir sind erst wenige Minuten unterwegs, als mir Eveline ein Algenbüschel mit Beinen zeigt: eine Krabbe. Ich hätte das Tier glatt übersehen. Krabben sind zehnfüßige Krebse mit verkürztem abgeplattetem Körper. Im Gegensatz zu den Langschwanz-Panzerkrebsen - wie etwa Langusten und Hummer - ist ihr Hinterleib zurückgebildet, ohne Schwanzfächer und stets bauchwärts eingeschlagen. Das von uns bestaunte Exemplar könnte eine Kleine Seespinne sei. Ihr Rückenpanzer und die Beine besitzen viele Hakenborsten. Auf ihnen befestigt sie - wie manch andere Krabbenart - Algen und kleine Polypen. So wächst ein wandelndes Algenbüschel heran. Die Tarnung ist fast perfekt. Auch später auf den Fotos ist von der Krabbe nur die unbepflanzte Bauchseite erkennbar, die das Tier etwas anhob, als es gegen meine sich nähernde Unterwasserkamera in Verteidigungsstellung ging.

Eveline, Markus und ich schweben an kleinen Felsterrassen entlang immer weiter in die Tiefe. In der Ferne perlen hinter Steinblöcken silbrige Blasenwolken von anderen Sporttauchern auf. Zwischen einem Felseinschnitt scheint plötzlich durch einen wundersamen Zufall ein Edelsteinregen zu fallen: ein Schwarm nur wenige Zentimeter großer junger Mönchsfische. Ihre Körper strahlen in einem unwahrscheinlich leuchtenden Kobaldblau. Erst mit der Reife erlischt dieses Blau und verwandelt sich in eine bräunliche bis blauschwarze Tönung.     nach unten     nach oben

 

Gorgonien
Tiefe 15 Meter. Die ersten Gorgonien - Gestreckte Gorgonien - ragen wie herbstkahle Sträucher aus dem Boden. Wir gleiten in das Reich der Horn- oder Rindenkorallen, so heißen diese markanten Kolonien von Blumentieren. Das für jene Ordnung typische Achsenskelett im Stockinneren besteht aus biegsamen hornartigen Fasern mit Kalkeinlagerungen; es umhüllt eine mit Kalkteilchen durchsetzte weiche Rinde. Darin sind die Korallenpolypen eingebettet, daher auch die Bezeichnung Rindenkorallen. Taucher aber bevorzugen die verhaltene Poesie, die in dem lateinischen Namen mitschwingt: Gorgonien.

Tiefe 18 Meter. Die Büsche und Fächer werden häufiger. Konturen und Färbungen wechseln. Weiter oben wuchsen vor allem die wenig verzweigten Gestreckten Gorgonien mit ihren fast parallelen Ästen. Sie leben überwiegend an lichten Stellen und meiden Höhlen. Die nun vorherrschenden Gelben Gorgonien bevorzugen dagegen Schatten. Auf freien Felswänden sind sie erst in Tiefen über 15 Meter anzutreffen. Ihre Fächer stehen wie Siebe quer zur Richtung der häufigsten Wasserbewegung. So können die Polypen einen größeren Anteil aus dem mit der Strömung vorbeitreibenden Plankton abfischen. Immer mehr werden die gelblichen Formen von Roten Gorgonien abgelöst.

Tiefe 21 Meter. Wir erreichen unsere tiefste Stelle. Der Grund senkt sich kaum noch. Hier und da schimmern an den Felswänden der schluchtartigen Gänge und Spalten neben den großen Fächern Roter Gorgonien kleinere fast blauschwarze Hornkorallen. Ich schalte die Pilotleuchte ein. Das Blauschwarz verwandelt sich in ein herrliches Violett, nach dem diese Tierkolonie auch benannt ist: Violette Gorgonie, Paramuricea chamaeleon; der zweite Teil des lateinischen Namens verrät eine Eigenart dieser Korallen: ihre Farbvariationen. Sie können auch karminrot, an den Enden gelblich oder ganz gelb gefärbt sein. Mir fällt ein, dass wir quer durch das Spektrum häufigster Gorgonien des Mittelmeeres schwimmen.

Nur die bekannteste Mittelmeerkoralle, die Edelkoralle, sehen wir nicht. Mir glücken erst vor der spanischen Mittelmeerinsel Ibiza Aufnahmen von Edelkorallen und zwar in Tiefen jenseits 40 Meter. Die Edelkoralle muss aber auch im Seegebiet zwischen Sardinien und Korsika vorkommen, denn in Nordsardinien ist eines der Zentren der Korallenfischerei beheimatet. In Santa Teresa di Gallura sah ich eine ganze Flotte jener Boote, die mit feinen Spezialnetzen die roten Korallen von den Gründen losreißen - und dabei freilich viele andere Lebewesen mit vernichten. In Santa Teresa leben außerdem Korallentaucher. Etwa 20 Taucher fahren zwischen April und Oktober - wenn immer es das Wetter zulässt - hinaus in die Straße von Bonifacio. Sie müssen freilich zu Tiefen von 60 bis 110 Meter hinuntertauchen, um mit wenigstens drei Kilogramm Korallenmasse noch lohnende Mengen abschlagen zu können.

Aber die Tage der Korallenernte hier sind gezählt: Zum einen werden durch die Meeresverschmutzung die empfindlichen Korallenpolypen immer seltener, zum anderen gewinnen die Umweltschützer in der sardischen Regierung zunehmend Stimmen gegen die räuberische Tätigkeit der Korallentaucher. Vor Lavezzi darf natürlich keiner ernten. Hier können deshalb in größeren als den von uns aufgesuchten Tiefen noch umfangreiche Bestände sein. Im Gegensatz zu den biegsamen Gorgonien sind bei den Edelkorallen rötliche Kalkkörperchen (Spiculae) zu einer kompakten Kalkmasse verklebt, die als Skelett fungiert. Sie ist nach dem Entfernen des Weichkörpers das Rohmaterial für die begehrten Schmuckwaren.      nach unten     nach oben

 

Zackenbarsche
Immer wieder visiere ich durch den Sucher der Kamera. Die Fülle der Objekte ist überwältigend. Plötzlich kommt Jerry angehastet und winkt aufgeregt. Wir folgen gehorsam und haben nicht die geringste Ahnung. Auf halber Strecke wartet Keith. Er steht ein wenig abseits auf einer kleinen Felskuppe und betrachtet uns wohlgefällig, etwa wie ein General auf einer Tribüne den Vorbeimarsch seiner Elitetruppen. Wir passieren in Gänseformation. Jerry dirigiert uns zu einer horizontalen Felsspalte. Gespannt spähen wir in den kaum halbmeterhohen Schlitz - und würden uns die Augen reiben, trügen wir nicht Tauchermasken. Da sind - das ist doch nicht möglich - Zackenbarsche!

Vor über 40 Jahren, als in Frankreich an der Côte d'Azur das Tauchen als neue Sportart entdeckt wurde, als der Schriftsteller Guy Gilpatric als einer der ersten in Europa Fische freischwimmend mit dem Speer jagte, als Hans Hass sich für das Tauchen zu interessieren begann, als Jacques Cousteau und Frederic Dumas das erste wirklich brauchbare Presslufttauchgerät erprobten - und vielleicht auch noch 10 bis 20 Jahre später -, waren die großen Zackenbarsche an europäischen Mittelmeerküste nichts Ungewöhnliches. Aber immer mehr Taucher fielen mit immer stärkeren Schussharpunen über die mächtigen und leider auch sehr delikaten Tiere her. Die Barsche lernten rasch, wie der flossentragende Mensch einzuordnen sei: als feindlich, als lebensgefährlich. Sie zogen sich in größere Tiefen zurück. Die Jäger folgten bald mit modernen Tauchgeräten. Die Zackenbarsche wurden immer scheuer, mieden nach Möglichkeit überhaupt die Küstenregionen. Große Tiere sind heute nur noch vereinzelt in wenig zugänglichen Seegebieten und nur aus größerer Entfernung zu sehen.

Der Wrackbarsch ist ein Eremit und bevorzugt ohnehin die Einsamkeit - tiefes Wasser, die offene See. Manchmal folgt er Treibgut, um darauf siedelnde Tiere zu fressen. Der kleinere Braune Zackenbarsch sucht gern Höhlen und Spalten auf, auch Seegraswiesen am Fuß von Klippen in über 10 Meter Tiefe. Er wird bis 1,4 Meter lang und ist ein sehr geschätzter Speisefisch, zum Leidwesen der Unterwasserjäger und Angler auch misstrauisch, schlau und deshalb schwer zu fangen. Aus dem marinen Nahrungsangebot - Fische und Tintenfische - verdrückt der Braune Zackenbarsch täglich eine Menge, die einem Drittel seiner Körpermasse entspricht.

Während all meiner Tauchgänge vor Korsika und Sardinien sah ich nur einmal große Barsche (die kleinen Barsche wie Schriftbarsche, Sägebarsche und Rote Fahnenbarsche nicht gerechnet). Und jetzt, in dieser Spalte, nicht nur einer, sondern gleich fünf oder sechs Braune Zackenbarsche. Rechnet man die durch Lichtbrechung an der Tauchmaskenscheibe bewirkte optische Vergrößerung von einem Drittel ab, messen die Tiere immer noch 50 bis 60 Zentimeter. Aufgeregt hasten sie durch die steinernen Gänge. Kaum ruhiger bedienen wir die Kameras. Markus' Scheinwerfer erhellt den Spalt, während ich drei Blitze hineinschicke in der Hoffnung auf ein brauchbares Bild. Reine Jagdgier . . . Dann wird es Zeit, umzukehren. Unser Luftvorrat ist bis auf die Reserve verbraucht.

Doch zurück nach Bonifacio. Ich verlasse das alte Städtchen. Zehn Kilometer nordwestlich am Golfe de Ventilegne, wird das Land noch einmal überraschend flach. Ich entdecke für das mittägliche Picknick eine schöne seichte Bucht mit kiesigem Strand und dem Müll der letzten Saison: Plastikflasche, Konservenbüchsen, Papier. Dann geht die Fahrt weiter auf der Nationalstraße N 196 in die Montagne de Campa, eine sanft geschwungene Berglandschaft. Zwei Kilometer vor der nächsten Tankstelle geht mir der Kraftstoff aus. Ich pantsche mit Zweitaktöl und Kochbenzin und schwöre - zum wievielten Male eigentlich? -, ab sofort immer rechtzeitig zu tanken.     nach unten     nach oben

 

Ajaccio
Um die in der Heimat üblichen Kaffeezeit erreiche ich Ajaccio, die Hauptstadt Korsikas. Bastia hat einige hundert Einwohner mehr als Ajaccio, mehr Fabriken, den wichtigsten Hafen der Insel. Bastia müsste eigentlich immer noch die Hauptstadt Korsikas sein. Bastia hat aber einen historischen Nachteil: Als der etwas leichtsinnige, zweiundzwanzigjährige Carlo Bonaparte wieder einmal die hübsche und um vier Jahre jüngere Patriziertochter Letizia Romolino umarmte und die Umarmung nicht ohne Folgen blieb, kam am 15. August 1769 Napoleon nicht in Bastia, sondern in Ajaccio zur Welt. Und er, später mächtig geworden und immer noch auch Lokalpatriot, erklärte auf Bitten seiner Mutter Letizia 1811 Ajaccio zur Hauptstadt. Ajaccio strotzt natürlich von Gedenkstätten, Standbildern und Büsten Napoleons. Mir ist aber der Kaiser und seine Hinterlassenschaft momentan völlig egal. Ich sah heute schon zu viel. So schlendere ich nun ziellos durch Ajaccio. Der Feierabendverkehr tobt durch die Hauptstraßen. Müdigkeit, Staub, Autoabgase verdrängen gründlichst alle Einflüsterungen, auf den Spuren Napoleons wandeln zu wollen. Ich bin froh, als ich wieder im Wagen sitze und weiter nach Norden holpere, in Richtung jener stillen Bucht am Golf von Porto. Es beginnt zu dunkeln.

Die Calanche ist eine wenige Kilometer südlich Portos am Golf gelegene Felslandschaft mit bis zu 500 Meter aufragenden Felsnadeln. Sie bestehen aus gelbrotem Granit. Ähnlich wie beim weniger schroffen Pendant in Bulgarien, den bis 150 Meter hohen Felsen von Belogradtschik, entstanden durch Erosionen im Laufe von Jahrtausenden wunderlich geformte Steingebilde. Manche erhielten hier wie dort wegen vager Ähnlichkeiten in den Konturen Namen: beispielsweise Elefant, Hundekopf und Riese hier; Reiter, Mönch und Bär dort.

Als ich an einem der letzten möglichen Aussichtspunkte halte und in die Calanche schaue, scheint bereits der Mond. Sein bleiches Licht schimmert auf dunklen, bizarren Steingebilden und Felsnadeln. Die Aussicht ist großartig und ein wenig gespenstig. Huschten da nicht riesige Fledermäuse um die Zinnen?

In der Dunkelheit ist es schwer, einen gemütlichen Übernachtungsplatz zu finden. Deshalb parke ich wieder auf einem Abstellplatz an der Küstenstraße. Es herrscht so gut wie kein Verkehr. Ich glaube, in der Nacht fuhren zwei oder drei Wagen vorbei. Ich rappele mich beizeiten auf und lande in den frühen Morgenstunden nach einer dreitägigen und 560 Kilometer langen Fahrt wieder in der Bucht unterhalb Osani am Golfe de Porto. Was für eine wunderschöne Insel!     nach unten     nach oben

 

Am Pfeilerfelsen
Das Meer ist ruhig. Die Sonne scheint, als hätte sie etwas nachzuholen. Gegen halb elf stecke ich im Taucheranzug und stapfe mit der Unterwasserkamera ins Wasser. Die ersten Meter sind enttäuschend. Sollte auch dieser von steilen Felsen gesäumte Golf der seichten Bucht von Argentella ähneln? Rechter Hand, vielleicht 100 Meter weiter draußen, ragt ein Stein mit der Silhouette eines winzigen Schlachtschiffes aus dem Meer. Ich schnorchele hinaus. Es wird allmählich tiefer. Der Seeboden bleibt aber immer gut erkennbar. Der Fels trug wahrscheinlich einen Pfeiler mit einem nautischen Kennzeichen. Reste eines Gittermastes liegen am Grund. Ich wechsele auf Geräteatmung und lasse mich sinken. Mir wird heiß, aber nicht nur wegen des guten Kälteschutzes meines Unisuits.

Ganz sacht, immer etwas Druckluft über das Brustventil in den Tauchanzug lassend, schwebe ich in die Tiefe. Es ist fantastisch. Endlich eine Unterwasserwelt, wie ich sie mir für das Mittelmeer erhoffte. Klares blaugrün schimmerndes Wasser. Zerklüftete und reichbewachsene Gründe. Viele interessante Tiere. Allein schon der Pfeiler: Beläge aus allerlei Pflanzen und niederen Tieren überziehen das Gestein. Eine leuchtend rote Purpurrose. Weiße Seepocken, das sind sesshaft in einem Kalkgehäuse lebende Kleinkrebse, fischen mit winkenden Bewegungen nach vorbeitreibendem Plankton. Grünliche und bräunliche Algen. Schwarze Miesmuscheln, Schwämme, Seescheiden. Röhrenwürmer mit blütenförmig entfalteten Tentakeln. Krustenanemonen. Wie ein Breitwandfilm zieht die mediterrane Fauna und Flora vor meiner Tauchermaske vorbei. Ich stoppe den Abstieg bei einer Gruppe von     nach unten     nach oben

 

Röhrenwürmern
Im Mittelmeer leben mindestens 300 Borstenwurmarten, die zu insgesamt vier Ordnungen gehören. Die meisten Borstenwürmer, eine Klasse der Ringelwürmer, finden sich in den Ordnungen der Freilebenden (Errantia) und der Sesshaften (Sedentaria). Letztere hausen fast ausnahmslos in selbstgebauten Röhren oder in mit Körperausscheidungen verfestigten Gängen. Deshalb nennt man die Sedentarier oft auch Röhrenwürmer.

Bekannte und auffällige Errantia europäischer Küsten von der westlichen Ostsee bis zum Mittelmeer sind beispielsweise Borstenwürmer aus den Familien der Eunicidae und Nereidae. Die oft räuberisch lebenden Euniciden tragen aber auf dem Rücken kaum Borsten und sind mit wehrhaften Kieferapparaten ausgestattet, mit denen sie schmerzhaft zu beißen vermögen.

Die überaus borstigen und stark segmentierten Nereiden sind häufig hübsch gefärbt und zwischen 10 und 50 Zentimeter lang. Die Berührung einiger Arten ist gefährlich. Etliche Nereiden besitzen außer scharfen Kiefern mit Glaswolle vergleichbare Borsten, die sie bei Gefahr spreizen. Die Borsten dringen leicht in die Haut und brechen ab, das führt zu schmerzhaften Schwellungen und Entzündungen.

Unter den Sedentariern sind zwei Familien besonders auffällig: die Kalkröhrenwürmer (Serpulidae) mit dem Kleinen Kalkröhrenwurm, dem Blutroten Röhrenwurm und dem Dreikantwurm und die Fächerwürmer (Sabellidae). Die Kalkröhrenwürmer fertigen sich ihre Wohnröhren aus abgeschiedenem Kalk und können diese mit einem konischen Horn- oder Kalkzapfen verschließen. Die oft größeren Sabellen bauen bis zu 60 Zentimeter lange häutige oder hornige Wohngehäuse und stets ohne „Tür“, also ohne Zapfen.

 An den unscheinbaren Wohnröhren würden die meisten Taucher vorbeischwimmen, ragten da nicht wie Blüten aussehende farbige Tentakelfächer aus den Mündungen. Es sind dies die Planktonfallen der Würmer. Zufällig in das Strahlengeflecht geratene organische Schwebeteilchen werden festgehalten und mit Flimmerhärchen entlang einer Rinne in die Mundöffnung gestrudelt.

Die größten Mittelmeersabellen sind der gewöhnlich mit seiner Röhre nur wenige Zentimeter aus dem Boden ragende Pfauenfederwurm und die prächtige Schraubensabelle. Bei der letzteren ist der Tentakelträger spiralförmig gewunden.

Freilich, all das geht mir nicht gerade in dem Moment, da ich die Röhrenwürmer betrachte, durch den Sinn. Erst viel später habe ich darüber nachgelesen. Mir genügt momentan eine grobe Einordnung. Interessanter erscheint mir zu wissen, warum Röhrenwürmer herrliche Tentakelkronen entfalten oder die meisten Arten zu Kletterhaken umgebildete Borsten besitzen, mit den ihre Hinterteile in der Röhre ankern. Das erlaubt ihnen bei Gefahr ein rasches Zurückschnellen. Was prompt geschieht, als ich der Gruppe zu nahe komme. Plopp und noch einen Zapfen vor den Eingang! Übrig bleiben ein paar unscheinbar geschlängelte Strukturen.

Ich lasse mich weiter sinken. Tiefe 10 Meter. Zwei bräunlich schimmernde Purpurseescheiden. Im Scheinwerferlicht würden sie sich in leuchtendem Rot präsentieren, doch die Wasserschicht eliminierte bereits die roten Farbanteile des Sonnenlichts. Tiefe 15 Meter. Ich lande auf dem Grund und genieße die Kulisse. Mannshohe Steinbrocken bedecken den Boden und bilden kleine reizvolle Schluchten, Gänge und Vertiefungen, von streifigem Licht erhellt. Wie ein überdimensionaler Mast ragt die Felsnadel empor. Ein Mönchsfischschwarm flirrt um den Gipfel gleich einer Wolke aus groben Partikeln. Die Wasseroberfläche schimmert wie mattes welliges Silber.

Nur wenige Meter weiter lauert zwischen den Steinen in schräg aufwärts gerichteter Haltung ein Pärchen Schriftbarsche von etwa 20 bis 25 Zentimeter Größe. Typische Kennzeichen der Schriftbarsche sind ein leuchtend hellblauer Fleck an der Bauchseite und dunkele Querstreifen; sie sollen an Schriftzeichen erinnern. Mir fällt es schwer, da Ähnlichkeiten zu erkennen. Das Schriftbarschpärchen betrachtet gelassen die Verrenkungen des Unterwasserfotografen samt aufdringlichem Geblitze. Normalerweise sind Schriftbarsche Einzelgänger; sie bewohnen ein genau abgegrenztes und gegen Artgenossen verteidigtes Revier. - Nur zu schnell ist der Film voll und die Batterie leer. Ich tauche auf und schnorchele zurück.

Filmwechsel und Einbau des Normalobjektivs. Probeblitz. Nichts. Blitzgerätewechsel, das heißt, den in Argentella gebadeten Blitz wieder angebaut. Probeblitz. Okay! All dies im warmen Tauchanzug bei Sonne und mindestens 22 Grad Celsius. Ich bin also auch aus thermischen Gründen froh, als mich endlich wieder kühles Wasser umspült. Bei diesem Tauchgang finde ich etwas abseits der Felsnadel zwischen Neptunsgras eine bratpfannenbreite und halbmeterhohe Steckmuschel - jetzt könnte ich das soeben ausgebaute Weitwinkelobjektiv gebrauchen! Tauchende Souvenirsammler haben die einst häufigen Muscheln recht selten werden lassen. Zwischen Schale und Mantel dieser Mollusken haust oft ein Muschelwächter genannter Kurzschwanzkrebs. Das kugelförmige Tier hat es nicht weit bis zum gedeckten Tisch. Es kehrt sich einfach schleimumhüllte Nahrungsteilchen von den Muschelkiemen. Ich treffe auch wieder auf einen fast halbmetergroßen Eisseestern. Natürlich gerade jetzt, wo sich ein Zwischenring nur für Aufnahmen von 20 Zentimeter großen Objekten in der Kamera befindet.

Unter Wasser vergeht die Zeit wie gewöhnlich viel zu schnell. Mein Rücken beginnt zu schmerzen. Das kommt von dem Bleigurt an der Taille. In der Schwimmlage zerrt seine Masse von immerhin 15 Kilogramm bauchwärts, während Beine, Arme und Oberkörper durch den Auftrieb emporstreben. Mein Atemluftvorrat geht zur Neige. Ein Blick auf den Kompass. Gemächlich flössele ich zum Ufer.     nach unten     nach oben

 

Tauche nie alleine!
Sachkundige werden vielleicht nach Grundsätzen der Tauchsicherheit fragen, werden mahnend anmerken, dass es doch heißt: „Tauche nie allein!“ - Ich hatte das eigentlich auch nicht im Sinne, sondern eine Basis mit Boot und Tauchführer. Es hätte mir überdies die Suche nach geeigneten Tauchplätzen erspart. Aber was, wenn man zum ersten und - wer weiß das - vielleicht zum letzten Male an einem seiner Traummeere sitzt? Nicht tauchen wegen des größeren Risikos? Wer das über das Herz brächte, scheint mir, ist nicht mir Leib und Seele Sporttaucher. Also allein, aber keine riskanten Tauchgänge und bestmögliche Sicherheitsmaßnahmen beachten: Nur in Buchten und in Ufernähe tauchen. Nicht tiefer gehen als 15 bis 20 Meter. Eine stabile Boje mit einer 25 Meter langen Leine um die Taille schlingen, damit einem notfalls jeder Sonntagsangler hochhieven kann.

Als ich wieder einmal nach Calvi fahre, um Luftvorräte und Brot einzukaufen, entdecke ich etwa vier Kilometer südlich des Ortes eine Straßennische zum Parken. In der Nische läuft ein Quellwasserrinnsal den Fels hinab. Es ist genießbar; Korsika ist berühmt für gutes Trinkwasser. Aber wichtiger ist: Unterhalb der Straße führt die Andeutung eines Trampelpfades hinab zum Meer. Ob ich nicht doch einen Tauchgang direkt an der Steilküste riskiere?

Ich erledige die Besorgungen, trinke an der Hafenpromenade einen Pastis und nächtige im Auto in der Straßennische. Die Nacht erweist sich nach der gestrigen Kälte nun wieder als angenehm temperiert. Was für ein sprunghaftes Wetter.

Am Morgen interessieren mich vor allem zwei Dinge: ein großer Topf Kaffee und der Weg hinab zum Meer. Das erste ist unproblematisch. Auch der Abstieg lässt sich anscheinend ohne spezielle Bergausrüstung leidlich bewältigen. Ich rutsche, kraxele, springe. Die Zeit vergeht. Die Wasseroberfläche rückt kaum näher. Mir kommen bald die trügerischen Bilder aus dem Pirin-Gebirge und der Hohen Tatra in den Sinn Wie greifbar nahe schienen die Gipfel. Sie lockten wie Oasen in der Wüste. Sie lockten Stunde um Stunde.

Nach etwa drei Viertel des Weges gebe ich auf. Es ist zu weit für den Transport der schweren Ausrüstung. Also zurück an den Golfe de Porto.

Von der offenen See her schieben sich lange Wellen in die Bucht. Die Wasserbewegungen schlagen durch bis auf den 15 Meter tief liegenden Meeresboden. Der Wellenrhythmus lässt alles Bewegliche über den Grund schwingen: Sedimente, die pfenniggroßen Scheiben zerfallener Schirmalgen, kleine Fische, Seegrasfetzen, Taucher. Das Fotografieren wird schwierig. Die Sicht ist schlechter als gestern, nur zehn bis zwölf Meter. Nur? Für die Ostsee wäre dies eine begeisternde Traumsicht. Wie schnell man sich doch an bessere Bedingungen gewöhnt. Mehr Fischschwärme als sonst durchstreifen das Areal. Suchen sie Schutz in der Bucht? Endlich gelingt die Aufnahme einer Steckmuschel. Wer übrigens meint, die Muschel stecke lose im Boden, der irrt. Sie hat ihr spitzes Ende mit Byssusfäden auf einer festen Unterlage angeheftet. Diese als Muschelseide bezeichneten Fäden wurden in vergangenen Zeiten versponnen und zu Handschuhen verarbeitet. Ein Paar dieser hauchzarten goldbraunen Handschuhe passten in eine Walnussschale.

Ich halte mich beim Fotografieren manchmal an Wurzelstöcken des Neptunsgrases fest oder verklemme meine Beine zwischen Steinen. Eine der merkwürdigen Ballalgen rollt über den Grund. Sie misst etwa 15 Zentimeter im Durchmesser und ist von satter dunkelgrüner Färbung. Die Kugel fühlt sich elastisch an. Sie ist hohl und besteht aus unzähligen miteinander verklebten Einzelfäden. Ich löse in jenem Moment aus, da der Vorwärtsschwung endet und alle beweglichen Objekte für einen kaum merklichen Augenblick verharren.     nach unten     nach oben

 

Schwämme
Unaufhaltsam verrinnt mit der Blasenspur aus dem Atemregler die mögliche Tauchzeit. Keine fotografischen Höhepunkte; ich fülle den Film mit allerlei Stillleben, besonders mit Aufnahmen von Schwämmen. Es gibt kaum harte Untergründe, auf denen keine Schwämme siedelten. Im Mittelmeer leben über 180 Arten. Schwämme besitzen vielerlei Farben und Formen. Röhren, Nieren, schichtartige Beläge, Stifte, Bälle, Becher, mit bizarren Verästelungen besetzte Knollen, Geweihe . . . Schwämme sind Tiere, sehr einfache, die simpelsten unter den noch mit bloßem Auge sichtbaren marinen Lebewesen, aber eben doch Tiere. Eines der wesentlichsten Merkmale tierischen Lebens ist Bewegung. Schwämme aber rühren sich um keinen Deut. Selbst als ich sie anstupse, erfolgt keine sichtbare Reaktion. Ich wiederhole einen bekannten Versuch und zerbrösele Algenteilchen dicht über einer der für Schwämme typischen Ausströmöffnung. Die Partikel werden weggetragen; aus den Öffnungen strömt also Wasser. Folglich ist auch irgendein Triebwerk in Gang, der Schwamm also doch nicht ohne Leben.

Ein Schwamm mit dem Volumen von einem Liter vermag täglich bis zu 2000 Liter durch die Poren seiner Oberfläche zu saugen und wieder auszustoßen: 20 Bierfässer voll Wasser! Die Schwämme sind von einem mit winzigen Einströmöffnungen beginnendem System feinster Kanäle durchsetzt. Diese münden zu Tausenden in den großen Ausströmöffnungen. In einem Teil der Kanäle befinden sich Kragengeißelzellen. Ihre Millionen unablässig peitschenartig schwingenden Geißelfäden treiben das Wasser durch den Schwamm. Und mit dem Wasser zirkulieren Sauerstoff und Nahrung, werden die Abfallprodukte des Stoffwechsels und die Keimzellen der meist zwittrigen Schwämme ins Wasser gespült.

Aus den Keimzellen entstehen rundliche bis ovale „Schwärmlarven“ mit Geißelantrieb. Sie setzen sich nach einer Frist planktischen Daseins auf einem harten Untergrund fest - egal ob Fels, Muscheln, Wrackteile, Strünke großer Algen oder Krebspanzer. Es bilden sich die ersten Kanäle mit Kragengeißelzellen. Sie werden ausgebaut. Skelette aus miteinander verflochtenen Kalk- oder Kieselsäurenadeln oder hornartigen Fasern aus so genanntem Spongin entstehen. Der Badeschwamm ist nichts anderes als das nach dem Auswaschen lebender Zellen übriggebliebene Spongingerüst. Unsere Schwämme im Haushalt bestehen jedoch meist aus Kohlenwasserstoff-Verbindungen und kommen in Leuna oder Leverkusen zur Welt.

Wenn ich es recht bedenke und noch die Beobachtungen und Fotos hinzufüge, die später vor Sardinien und Ibiza entstanden, so bestimmen Schwämme mit teils prächtigen Färbungen wesentlich das Colorspektrum unterseeischer Landschaften. Sie sind alles andere als fotografische Lückenbüßer.

Momentan fällt mir besonders der rote Schwamm Spirastrella cunctatrix auf mit seinem typischen Adergeflecht großer Kanäle, eine gelbliche Knolle mit Auswüchsen wie Warzen und ein nierenförmiger Lederschwamm von graubrauner Färbung mit weißlichen Flecken. Schwämme sind durch die oft variierenden Farben und Formen schwer zu bestimmen: teils nur mit Lupe und Mikroskop nach der Form der Skelettnadeln. Schwämme können sehr interessant sein, aber eines sind sie keinesfalls, nämlich aufregend!     nach unten     nach oben

 

Muränen
Doch Fortuna schüttet gütig aus ihrem Füllhorn einen glücklichen Zufall auch zu mir herab in den Golf. Als ich um einen Steinblock biege, starre ich in das aufgerissene Maul einer Muräne.

Seit Kaiser Nero (oder Sienkiewiczs „Quo vadis?“ bzw. dessen Verfilmung) besitzen Muränen eine üblen Leumund: Sie fressen Menschen! Wer erinnert sich nicht der Szene, da Nero seine Muränen mit nackten Sklavinnen füttern ließ? In die Enge getriebene Muränen greifen tatsächlich entschlossen an. Mit ihren nadelförmigen nach hinten gebogenen Zähnen reißen sie schmerzhafte Wunden, in die außerdem giftiger Schleim aus der Mundhöhle gelangen kann. Mir wird etwas bang zu Mute.

Meine Bedenken haben allerdings einen anderen Grund: Sporttaucher berichten, dass sich manche Muränen, wenn ihnen der Unterwasserfotograf zu dicht auf den Leib rückt, in ihre Schlupfwinkel zurückziehen. Und wie käme ich dann zu einem Foto?

Andere Ängste sind unbegründet. Man darf nur nicht in Muränenhöhlen fassen, das Tier angreifen, packen oder gar harpunieren, so dass es sich ausweglos bedrängt fühlt. Auf manchen Tauchbasen gehört die Schaufütterung meterlanger Muränen durch den Tauchführer zum Besichtigungsprogramm. Die gefräßigen Tiere jagen sonst überwiegend nachts. Fische, größere Krebse und Tintenfische sind ihre Beute. Am Tag verlassen Muränen nur ungern die Schlupfwinkel, stecken aber oft interessiert den Kopf aus dem Eingang. Im Mittelmeer lebt nur eine Art. Von den anderen hier anzutreffenden Aalfischen (Flussaal, Meeraal) ist sie leicht zu unterscheiden: an der Fleckung und der dicht hinter dem Kopf beginnenden Rückenflosse. Das offene Maul ist keine gegen mich gerichtete Drohung, sondern normales Verhalten des Tieres.

Ein Naturführer meint: „Die Begegnung mit einer Muräne ist immer der Höhepunkt eines Tauchgangs.“ Ich richte die Unterwasserkamera auf den Höhepunkt. Er lugt, von Pfennigalgen umkränzt, aus einem meterbreiten Rasenkorallenpolster. Bedingt durch das Weitwinkelobjektiv und den minimalen Aufnahmeabstand von einem halben Meter wird das wieder eine Aufnahme mit viel Biotop.

Nach 70 Minuten tauche ich auf. Die Wellen scheinen größer geworden zu sein - Vorboten eines Wetterumschwungs? Ich habe aber nicht die geringsten Schwierigkeiten. Mit dem leicht aufgeblasenen Anzug schaukele ich wie eine Boje seelenruhig an der Oberfläche. Ich schwimme zum Ufer und wechsele eilig Film und Objektiv. Die restliche Druckluft soll für den Abend bleiben. Deshalb schnorchele ich weiter, nun rechts am Ufer entlang mehrerer kleiner Felsabstürze. Im Algenbewuchs der Gezeitenzone weiden Napfschnecken. Jede Schnecke hat ihren festen Wohnplatz. Sie kehrt immer wieder dahin zurück. Nicht ohne Grund: Die Napfschnecke ätzt sich durch Ausscheidungen eine kleine Grube im Gestein, in die sie mit ihrem napfförmigen Gehäuse genau hineinpasst wie ein Deckel. So ist die Napfschnecke ideal geschützt gegen die Unbill ihres Lebensraume: starker Wellenschlag, den Wechsel zwischen Überflutung und zurückweichendem Wasser, manchmal völlige Trockenheit und stundenlang sengende Sonne. Mich erstaunt immer wieder, wie hervorragend sich die meisten Tiere und Pflanzen ihrer Umgebung anzupassen vermochten. Biologen betrachten das gewiss nüchterner und haben allerlei Erklärungen mit -ion zur Hand: Mutation, Selektion, Evolution . . . Ich akzeptiere Theorien und Beweise, warum auch nicht. Dennoch: Es sind auch kleine Wunder!     nach unten     nach oben

 

Sammler
Jede Zone hat ihre speziellen Bewohner, die sie nur notgedrungen oder gar nicht verlassen. Als die typischsten Tiere der Gezeitenzone des Mittelmeeres gelten die Gewöhnliche Napfschnecke und die Purpurrose. Es ist meist nicht schwer, Purpurrosen zu finden, wenn man sie in ihrem bevorzugten Biotop sucht - an glatten senkrechten Felsabstürzen. Ich sehe die ersten Rosen schon von weitem. Sie kleben wie halbierte Tomaten an dem Gestein. Neben den roten gibt es, freilich seltener, auch braune und grünliche Färbungen. Im Schwarzen Meer sah ich öfter braune Varianten, im Mittelmeer nicht eine. Die im Durchmesser vier bis sechs Zentimeter großen Anemonen entwickeln ihren Nachwuchs im Magenraum und entlassen dann die Jungtiere durch die Mundöffnung in die See. Ich schnorchele an den Felsen entlang. Bis auf ein Napfschneckenfoto gelingt keine Aufnahme. Im freien Wasser schwimmend, ohne festen Halt und von den Wellen auf- und abgeschaukelt - wie soll man da die Kamera vor dem Motiv auf den Zentimeter genau ausrichten?

Ich biege ins Areal der Seegraswiesen ab und schwimme strandwärts. Das Neptunsgras bleibt zurück. Kleine, mit allerlei Kalkrotalgen und Grünalgen bewachsene Steine bedecken den Grund. Unter mir hat ein leuchtend roter Purpurstern seinen schützenden Unterschlupf verlassen. Das schöngefärbte, auffällige Tier passt so gar nicht in diese Umgebung schlichter zarter Töne. Er sieht eher aus wie ein Dekorationsstück für den Fotografen. Schneckenlangsam kriecht der Seestern auf Hunderten von Saugfüßchen voran. Ich mache drei Fotos, ehe ich ihn behutsam anhebe. Der Seestern spannt seinen Körpermuskulatur an und erstarrt. Ich setze das Tier zurück auf den Grund und widerstehe der Versuchung, es als Andenken mitzunehmen.

Zu oft schon haben Sammler die Natur geschädigt! Selbst die Mitnahme eines leeren Scheckenhauses bedeutet letztlich einen Eingriff in das biologische Gleichgewicht des Meeres. Ein Beispiel: im Mittelmeer leben ungefähr 15 Arten von Einsiedlerkrebsen, vom kleinen Sandeinsiedler mit 8 Millimeter Rumpflänge bis hin zum 60 Millimeter langen Großen Einsiedlerkrebs. Diese Kurzschwanzkrebse haben ein zarthäutiges Hinterteil, abgesehen von dem zu einem Greifhaken umgebildeten Schwanz. Um den delikaten Achtersteven vor hungrigen Mäulern zu schützen, schlüpfen nun die Einsiedler rücklings in leere Schneckenhäuser. Sie werden ständig mit herumgetragen und, falls zu eng geworden, gewechselt. Vielleicht äugt aus einem Versteck schon interessiert einer der Einsiedler nach gerade dem Gehäuse, das ich hinter der Handschuhstulpe verschwinden ließe?

Vom Handel mit seltenen Schneckengehäusen für betuchte Sammler gar nicht zu reden. Die kostbarsten Stücke wurden fast mit Gold aufgewogen. Das führte praktisch zur Ausrottung manch seltener Art. Der Kauf bei Zoo- und Souvenirhändlern ist ja nichts anderes, als fischte man die Tiere selbst aus dem Meer - ganz egal aus welchem Meer! Ich fische also nichts und schwimme zurück ans Ufer. Lediglich aus weit auf den Strand geworfenen Überresten mariner Fauna werde ich später einige Molluskenschalen und die Skelette dreier Steinseeigel auflesen; diese, ein gewaltiger Pinienzapfen und ein Stück Korkeichenrinde sind meine ganzen Souvenirs.

Gegen Abend wird es immer stürmischer. Dicke Wolken verhängen den Mond. Nebel kommt auf. Um 18.30 Uhr ist es stockfinster. Das Meer wogt grauschwarz und rauscht beängstigend. Nebelschwaden wallen über die einsame Bucht. Jetzt allein da hinaus? Ich mixe einen Grog - und streiche den Nachttauchgang.     nach unten     nach oben

 

Die Tage schwinden
dahin wie die Francs im Portmonee. Unversehens geht beides zu Ende. Der vorletzte Morgen dämmert herauf. Er verspricht noch einmal schönes Wetter. Auch das Frühstück gelingt vorzüglich und erreicht die Güte eines Imbisses am heimischen Bahnhofskiosk. Schwierigkeiten bereiten lediglich die Fotografierversuche in der Brandungszone. Nach einigen Minuten bin ich es leid, Spielball der Wellen zu sein und schwimme in tieferes Wasser. Wieder ein herrlicher Tauchgang am Pfeiler. Noch einmal bestaune ich den schönen Bewuchs, genieße die scheinbare Schwerelosigkeit, das Gleiten über Blockgründe und Seegraswiesen, folge Brassenschwärmen. Im Seegras entdecke ich eine faustgroße Purpurschnecke. Die Purpurschnecke und die verwandte Brandhornschnecke waren die wichtigsten Murex-Arten, die vor dem Chemiezeitalter für die Gewinnung des begehrten Purpurs gesammelt wurden. Die Färber benötigten riesige Mengen: für einen einzigen Mantel immerhin etwa 12 000 Schnecken! Ein Lippfischporträt gelingt. Und dann entdecke ich noch ein Tier, nach dem ich bisher vergeblich Ausschau hielt: die Schraubensabelle, den größten Röhrenwurm des Mittelmeeres. Die Wohnröhre steht aufrecht wie ein Schlot in einer Spalte. Ich kann dadurch schlecht fotografieren. Immerhin bleibt die Freude, eine der eigentlich - oder einst - häufigen Sabellen in der Natur gesehen zu haben.

Ich frühstücke in Ruhe, als begännen gerade die Ferien. Ich schaue auf die blaue See und denke an all die Erlebnisse und Eindrücke auf meinen Tauchgängen. Nein, das Mittelmeer ist noch nicht tot, wenigstens nicht vor Korsika und in etlichen anderen Regionen. Aber Tatsache ist, dass es schon viele Seegebiete mit hochgradigen Verschmutzungen gibt und dadurch einen Rückgang im Artenreichtum: Buchten, die im Sterben liegen; Meeresgründe, auf denen sich kaum noch ursprüngliches Leben regt. Wenn vor allem die Anliegerstaaten die Einleitung von Schadstoffen nicht drastisch vermindern, sind eines Tages meine Unterwasseraufnahmen nicht nur Erinnerungsfotos, sondern Dokumente ausgelöschter Lebensformen . . .

Den Gedanken - dagegen ist ja die heimatliche Ostsee der reinste Zoo! angesichts „leerer“ Tauchgründe in der Bucht von Argentella - muss ich natürlich revidieren; würde man zum ersten Mal in die Ostsee hinausschwimmen mit einem Weitwinkelobjektiv für halbmetergroße Motive, was gäbe es da für Tiere zu fotografieren? Ich kenne die heimischen Regionen durch viele Exkursionen, weiß um die sandigen Gründe, die miesmuschelbewachsenen Steinblöcke, allerlei niedere Tiere und ein Dutzend Fischarten. Ich stelle mich bereits beim Einstieg auf dieses oder jenes Motiv ein.

Natürlich leben hier im Mittelmeer wesentlich mehr Arten, auch in Regionen, in denen auf den ersten Blick „nichts los“ zu sein scheint. Die Natur lässt keine leidlich akzeptablen Lebensräume ungenutzt. Aber da die Flachküsten und Seegraswiesen kaum sichere Verstecke bieten, sind ihre Bewohner meist gut getarnt. Sie leben oft im Sand vergraben oder tragen wenigstens Sandfarben. Andere besitzen Färbungen des Seegrases - wie die Grüne Samtschnecke - oder ähneln gar - wie die Seenadeln - völlig der Gestalt dieser Pflanzen. Große auffällige Tiere bekommt man hier selten zu Gesicht. Erst mit wachsender Vertrautheit der spezifischen Fauna und ihrer verschiedenen Areale, nach einigen Dutzend Tauchgängen vor Korsika, Sardinien und Ibiza, hatten sich meine Sinne so weit geschärft, um auch in den vermeintlich trostlosen Unterwasserwüsten Leben zu entdecken. Der Reiz des Mittelmeeres beruht für Taucher weder auf dichtbesiedelten Korallenriffen noch auf Großfischen, sondern vor allem auf einer vielfältigen wirbellosen Tierwelt.

Ich verstaue Topf und Kocher in einer Gummischüssel und schiebe diese unter den Sitz. Also dann los. Ein letztes Mal durch Calvi. Im Supermarkt am nördlichen Stadtausgang kaufe ich eine neue Thermosflasche, korsischen Landwein und etwas Roquefort, einen würzigen korsischen Schafskäse. In Sachen Käse ist Korsika autark. Aber auch leider eben nur darin.

Nach L'Ile Rousse biege ich auf die N 197 ab, um Bastia auf einer noch nicht gefahrenen Route zu erreichen. So kann ich noch neue Landschaftseindrücke gewinnen. Irgendwo in den Bergen habe ich Schwierigkeiten mit den Kreuzungen und Wegweisern. Einmal endet die Straße auf einem Feldweg, dann wieder auf einem gebäudeumstandenen winzigen Platz. Ich entscheide, ihn für einen Gutsinnenhof zu halten. Schließlich weist mir ein alter Landpfarrer den richtigen Weg - und kommt gleich einige Kilometer mit bis zu seiner Kirche.

Am Nachmittag erreiche ich den Hafenvorplatz von Bastia. Fährtickets werden erst ab 19 Uhr verkauft. Also weiter die Straße an der Ostküste entlang in Richtung Norden. Vielleicht komme ich noch bis zum nördlichsten Zipfel Korsikas?     nach unten     nach oben

 

Au revoir, Korsika
In der Nähe Bastias reiht sich Ort an Ort. Die Ufer sind dicht bebaut. Aber die Abstände zwischen den Dörfern werden größer, die Küstenlinien immer schroffer. Nach fast 40 Kilometer fahre ich in die letzte Siedlung der Ostküste: Macinaggio. Inzwischen hat sich der Himmel zugezogen. Der Wind fegt Gischt in den Jachthafen. Masten pendeln über grauem Wasser. Es ist wieder kalt, vielleicht noch zehn Grad Celsius. Auch an diesem Küstenabschnitt fällt mir der rasche Wechsel zwischen Idylle und Verfall auf. Wie überall sind die Gebäude nur selten weiß gekalkt. Die meisten Farbanstriche besitzen eine bräunliche, ocker- oder sandfarbene Tönung. Die Türen und Fensterrahmen sind gewöhnlich in einem noch dunkleren Braun lackiert. Ich fahre zurück nach Bastia, denn es ist zu spät und das Wetter zu unfreundlich für eine Wanderung zum Cap Corse, dem nördlichsten Punkt der Insel.

In Bastia schlendere ich vor dem Dunkelwerden durch die engen verwinkelten Gassen am Hafen. Eigentlich hätte ich mir noch gern das Palais des Gouverneurs angesehen, eine Zitadelle und als La Bastida Stadtkern des einstigen genuesischen Bastia. Es beherbergt unter anderem das Centre de Documentacion d'Archéologie sous-marine, eine Ausstellung von Funden aus antiken Handelsschiffen. Taucher bargen sie aus dem Meer. Doch das Museum schließt um 17 Uhr. Im hinteren Innenhof steht der Turm des einst von Kommandant Lheminier befehligten französischen U-Boots Casabianca. Kapitän und Boot spielten 1943 eine wichtige Rolle bei der Befreiung Korsikas. Wieder und hoffentlich zum letzten Mal in ihrer bewegten Geschichte erhoben sich die Korsen gegen die Besatzer und befreiten als die ersten in Europa ihre Heimat durch einen Volksaufstand.

Ich kaufe ein Billett für Passagier und Auto. Um 20 Uhr fahre ich den Wagen auf das Hafengelände. Eine Stunde später legt das Fährschiff ab. Die Lichter Bastias versinken im Achterwasser. Mir ist beklommen zu Mute. Noch lange starre ich trotz schlechten Wetters in die schwarze unruhige See, in die Richtung der Insel des Lichts. Au revoir, Korsika!?

(Erlebt 1980-1982, Text auch in Norbert Gierschner: „Nur tauchen, schreiben, reisen, Teil I“, ISBN-978-3-937522-42-5)


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