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Nur tauchen, reisen, schreiben, Teil I

Nur tauchen, reisen, schreiben, Teil II

Ein Helmtaucher
erzählt

Mit selbstgebauten Schwimmflossen, Tauchgeräten und Kameragehäusen

Mein erstes Wort war Pinguin

Tauchen im Eismeer

Hans Hass - Erster in allen Meeren

Schwerelose Zeiten - Tauchererinnerungen

Hinab in die Vergangenheit

 

 

 

Nur tauchen, reisen, schreiben - Mein abenteuerlichstes Jahrzehnt, Teil I

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Erinnerungen, Dokumente, Reiseberichte.

Erstauflage/Edition 2013, 200 Seiten DIN A4 mit ca. 270 Schwarz-Weiß-Abbildungen (Fotos sowie einige Karten und Cartoons, Softcover mit farbigem Einband. ISBN 978-3-937522-42-5, gebundener Ladenpreis € 14,80

Die 80er Jahre sind Norbert G.s abenteuerlichstes Jahrzehnt. Der Weg aus der Enge der DDR hinaus in die Welt beginnt, nach einem kurzen Rückblick zu den ersten Taucher- und Autorenjahren, mit der Werksgeschichte eines Tauchbuches für die Schweiz. Es folgen die mühsamen Wege, eine „Dienstreise als Sachbuchautor“ ins westliche Ausland genehmigt zu bekommen. Und schließlich die Reisen selbst: 1980 in die Schweiz mit Besuchen bei Jacques Piccard und dessen neuem Tauchboot PX-28, mit dem Trabbi nach Korsika, eine Tauch- und Segeltour in der Karibik. 1981 Stasi-Anwerbungsversuche, Berichte über weitere Buchprojekte, unabdingbar für den Weg in die weite Taucherwelt. 1982 die Reise nach Sardinien und 1983 nach Ibiza und Formentera. Eingebettet sind Auszüge aus zahlreichen zur Story gehörenden Dokumenten wie etwa aus dem Schriftwechsel mit Verlagen, mit dem Kulturministerium, dem Büro für Urheberrecht der DDR und etlichen Protokollen aus dem Ministerium für Staatssicherheit.

Die einzelnen Kapitel
1
. Wie alles begann … / 2. Die Geschichte des Checklistenbuches / 3. Der Anfang einer langen Reise / 4. Erlebnisse in Westdeutschland / 5. In der Schweiz und bei Jacques Piccard / 6. Begegnung mit Korsika / 7. Ein Abstecher nach Monaco / 8. Die Rückkehr und neue Pläne / 9. Zwischenlandung in Paris / 10. In den Korallenriffen der Kleinen Antillen / 11. Das Ende einer langen Reise / 12. Vorgang G., die Stasi und neue Projekte / 13. Tauch- und Reisebilder aus Sardinien / 14. Zwischenaufenthalt in Rom und Madrid / 15. Auf Ibiza und Formentera

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Und falls Sie noch interessiert sind, hier das Kapitel:

10. In den Korallenriffen der Kleinen Antillen

weitere Kapitel unter den Links: 13. Tauch- und Reisebilder aus Sardinien  | 15. Auf Ibiza und Formentera

Die Antillen sind nach der sagenhaften Insel Antilia benannt und werden auch als Westindien, Westindische oder Karibische Inseln bezeichnet. Die bogenförmige Inselkette ist 3300 Kilometer lang. Sie besteht aus einigen tausend Inseln. Die Antillen lassen sich in drei Hauptregionen gliedern: in die Großen Antillen mit den größten Antillen-Inseln Kuba, Haiti, Jamaika und Puerto Rico, in die Bahamas - sie bestehen aus etwa 20 bewohnten und 650 unbewohnten Inseln - und in die sich bis Venezuela erstreckenden Kleinen Antillen. Die Insel im Mittelteil der Kleinen Antillen heißen Windward-Inseln. Sie beginnen im Norden mit Guadeloupe und enden ungefähr 500 Kilometer weiter südlich Guadeloupes mit Grenada.

Die Kleinen Antillen besitzen ein stark vom Meer beeinflusstes tropisches Klima mit oft hoher Luftfeuchtigkeit und relativ geringen Temperaturschwankungen. Die Temperaturen betragen meist 22 bis 30 Grad Celsius. Die Regenzeit beginnt im Mai oder Juni und endet im Spätherbst. Die Niederschlagsmengen sind teils erheblich. Von August bis Oktober ist zudem mit Hurrikanen zu rechnen. Die meisten Inseln tragen Spuren vom Wüten dieser Wirbelstürme. Ende November dann setzt häufig ein heiteres angenehmes Wetter ein, das bis etwa April anhält. Dann beginnt wieder die Regenzeit.

Die Karibik besitzt viele Gesichter: Das mitunter tödliche Toben der Hurrikane, die im Durchschnitt siebenmal in jedem Jahr die Inseln heimsuchen. Aber auch gleißendes Sonnenlicht, wunderschöne Landschaften und ein leuchtend blaues Meer. Das traurige Gesicht: Armut, Hunger, das unsagbare Elend der Slums großer Städte. Das sieht der Reisende selten. Und manches erscheint ihm gar als Romantik, was einfach nur Armut bedeutet. Es gibt kein wahres Paradies auf dieser Erde - jedoch, als ein gewisser Trost, viele Gärten mit herrlichen Naturformen und einer interessanten Pflanzen und Tierwelt.     nach oben

Kolumbus

war nicht der erste und ist mit Sicherheit auch nicht der letzte, der den Osten im Westen suchte. Kolumbus hoffte bekanntlich, einen neuen Seeweg nach Indien zu finden. Was er aber endlich nach fast neun Wochen Überfahrt entdeckte, waren die Antillen. Kolumbus bezeichnete sie dann irrtümlich als Westindien oder auch, richtiger, als „Neue Welt“! Im Oktober 1492 betrat er erstmals amerikanischen Boden: San Salvador, eine knapp 70 Kilometer lange Insel auf den Bahamas. Noch im selben Monat erreichte Kolumbus Kuba und am Jahresende Haiti. Auf seiner zweiten Reise, 1493, landete Kolumbus zunächst auf den Kleinen Antillen. Die erste Insel kam an einem Sonntag in Sicht. Er nannte sie Dominica, nach dem lateinischen Wort für Sonntag. Dann führte der Kurs der Spanier weiter über Guadeloupe, die Jungferninseln und Puerto Rico wieder bis nach Kuba.

Vor der Ankunft der Spanier lebten die Einwohner der Antillen, verschiedene indianische Stämme, hauptsächlich Aruaken, im Einklang mit der paradiesischen Natur. Die Aruaken sind schöne sanfte Menschen, berichtete Kolumbus, die kaum mit Waffen umzugehen vermochten. Sie liefen splitternackt herum wie im Garten Eden. Eine üppige Vegetation mit zu jeder Jahreszeit reifenden Früchten und eine an Meerestieren reiche Küste bot die tägliche Nahrung. All you need is love!

Aber nichts, außer der abgelaufenen Zeit und dem Tod, ist endgültig und nur ein Narr verwendet Sätze wie „immer und ewig“. Vom südamerikanischen Festland her drangen die kriegerischen Kariben vor und erschlugen die frühen Blumenkinder. Als die ersten Karavellen die „Neue Welt“ erreichten, beherrschten die Kariben bereits viele Inseln der Kleinen Antillen.

Die Spanier errichteten nun ihrerseits Stützpunkte: zunächst auf Haiti, dann 1508 auf Kuba. Sie begannen die Antillen-Inseln auszuplündern, die Bewohner zu versklaven oder umzubringen. Manchmal, könnte man meinen, nimmt der Zufall grausam Rache. Viele Einheimische rafften auch eingeschleppte Krankheiten hinweg. Als Kolumbus die Antillen entdeckte, lebten dort vielleicht eine Millionen Indianer. Schon wenige Jahrzehnte später konnten die Eroberer nicht mehr genug Arbeitskräfte zusammentreiben. Deshalb begann um 1509 eines der tragischsten und zugleich größten Geschäfte Westeuropas: der Sklavenhandel, also die Verschleppung und der Verkauf vor allem von Westafrikanern nach Amerika. Kolumbus aber, wie Walter Krämer in „Neue Horizonte“ (1972) schrieb, „ ... mit den Folgen seiner Entdeckungen, dem Jahrhunderte währenden schrecklichen Völkermord in der ‘Neuen Welt’ und der Vernichtung alter Kulturen zu identifizieren, hieße, die historische und gesellschaftliche Bedingtheit dieser leidensvollen Prozesse zu übersehen.“

Mit der fortschreitenden Kolonisierung Amerikas, vor allem der Eroberung des Aztekenreiches Mexiko von 1519 bis 1521 durch Cortez und des Inkareiches Peru von 1531 bis 1534 durch Pizarro, verließen die Spanier bald viele Inseln. Die märchenhaften Schätze jener neuen Reiche lockten sie hinüber auf das Festland. Riesige Mengen von Gold, Silber und Edelsteinen wurden in den folgenden Jahrzehnten mit so genannten Silberflotten nach Spanien geschafft. Im 16. Jahrhundert stammten etwa vier Fünftel des gesamten europäischen Goldes und Silbers aus Amerika. Alljährlich segelte eine spanische Flotte von oft 50 bis 100 Schiffen auf der alten Kolumbusroute via Kanarische Inseln nach Haiti. Hier teilte sich die Flotte in zwei Geschwader: eines fuhr nach Veracruz zum Verladen der mexikanischen Schätze, das andere zur Landzunge von Panama, wo auf Maultierkarawanen die Reichtümer Perus eintrafen. Beide Geschwader vereinigten sich wieder vor Havanna und segelten über die Azoren zurück nach Spanien.     nach oben

Die fast unermesslich erscheinenden

Reichtümer lockten auch allerlei andere zwielichtige Abenteurer in die Karibik. Sie errichteten zahlreiche Schlupfwinkel und Stützpunkte. Besonders berüchtigt wurde das von Piraten beherrschte Port Royal auf Jamaika, einer der bedeutendsten Umschlagplätze des Kaper- und Schmuggelhandels und das größte „Sodom“ in der „Neuen Welt“. Bezeichnend auch das dazugehörige Ende: Ein Erdbeben ließ 1692 binnen weniger Minuten 90 Prozent ihrer 2000 Gebäude und mindestens ebenso viele Menschen für immer im Meer versinken.

Gleich Hyänen erschienen dann immer öfter auch die Kriegsschiffe der Rivalen Spaniens in der Karibik: Franzosen, Niederländer und Briten. Sie besetzten die noch freien oder wieder freien Inseln, tauschten und kämpften auch erbittert gegeneinander um die besten Pfründe. Besonders das erstarkende England nahm eine Insel nach der anderen in Besitz, beispielsweise 1652 Barbados, 1759 Dominica, 1763 Saint Vincent, 1814 Saint Lucia und Grenada. Im 19. Jahrhundert, nach der Abschaffung der Sklaverei, wurden als willigste und billigste Arbeitskräfte auch Maleien und Chinesen angeheuert. Ihre Nachkommen, vor allem aber jene der Afrikaner, die verschiedenen Mischlinge und einstige bzw. einige Europäer bilden heute die einheimische Bevölkerung. Die Aruaken sind von den Inseln ganz verschwunden und von den Kariben leben nur noch einige hundert Menschen in einem Reservat auf Dominica.

Die Mehrheit, der von den Ausländern beherrschten Karibik-Inseln, steht noch unter britischem Einfluss, gefolgt von dem der USA und Frankreichs. Fast scheint es, betrachtet man auf einer Karte die alten und neuen Abhängigkeiten der Antillen-Inseln, als hätten die Großmächte zusammengesessen und abgezählt: Ehne, meene muh, eine Insel ich, die andere du! Doch wie gesagt: Nur wenig ist für immer und ewig. Und so lebt da und dort ein Volk in Hoffnung auf Veränderung und lebt das Volk durch die Hoffnung.     nach oben  

Am 12. November 1980,

einem Mittwoch, erblickte ich auf Martinique erstmals das Licht der Karibik. Die B 747 rollt in Fort-de-France vor das Flughafengebäude. Das französische Englisch der Borddurchsage klingt mysteriös. Ich verstehe kein wesentliches Wort. Alle Passagiere drängen zum Ausgang. Also sind wir nach achtstündigem Flug angelangt!

Ich buckele den Beutel mit der kompletten Unterwasserkamera, Blitzgerät und Filmen - gute ungewogene 20 Kilogramm - durch die Sesselreihen. Ich fühle mich etwa so behaglich wie ein zu warm angezogener Gepäckträger mit zu schweren Koffern in einem zu engen Gang. Meine Oberbekleidung besteht aus Pullover, Jeans und einem Parka, deren Taschen zwei Blitzladegeräte, ein Armband mit Taucheruhr, Kompass und Tiefenmesser, der Atemregler eines Tauchgerätes nebst Finimeter und INT-Adapter sowie diverse Kleinmaterialien ausbeulen. In die Schulter schneidet der Riemen eines ebenfalls gewichtigen „Fototäschchens“ mit der 6x6-Kamera Pentaconsix, Filmen, Blitzgerät, Filtern, Belichtungsmesser, einem 180-mm-Teleobjektiv, Notizheft und allerlei Kleinkram. Falls der im Frachtraum befindliche Rucksack nicht ankäme, befände sich immerhin das wichtigste am Mann. Es galt ja nicht nur die Waage zu überlisten, sondern sich auch auf mögliche, abenteuerliche Wege des aufgegebenen Gepäcks einzurichten. Der winterliche Aufzug ist leicht erklärt: Ich komme geradewegs aus Paris. Dort herrschten Temperaturen in Gefrierpunktnähe. Freilich wählte ich auch den Parka wegen der vielen großen Taschen . . . Während des gesamten Fluges war die Maschine angenehm temperiert. Und sie ist es noch. Air condition sollte schließlich bei einem Flugzeug kein Problem sein. Als ich endlich den Ausgang erreiche, perlen die ersten Schweißtropfen.

Licht, Wärme und Exotik treffen mich wie eine Keule. Ungeachtet des späten Nachmittags flirrt grelles Sonnenlicht über die Betonflächen. Das Flughafengebäude leuchtet schneeweiß. Davor stehen Palmen und viele Kübel mit fremdartigen Ziergewächsen. Tropische Bäume und Sträucher rahmen den Platz. Der Himmel strahlt in unwirklichem Blau. Unten an der Gangway warten zwei Männer mit dunkeler Hautfarbe und rötlichen Overalls. Ich verharre wie Lot nach dem verbotenen Blick auf sein Weib.

Eh man! Der Fluggast hinter mir tippt auf meine Schulter und wedelt mit der Hand. Ich stolpere die Treppe hinab und finde erst vor dem Gepäckfließband so richtig zurück in die Realität. Dort lichtet sich nämlich das Towubabohu von Reisenden. Die Übrigbleibenden werden zunehmend nervöser. Auch mein Rucksack erscheint nicht. Ich bin nicht sonderlich aufgeregt. Irgend etwas musste ja schief gehen. Nur gleich am Anfang?

Die gepäcklosen Leute zappeln aufgebracht vor dem Schalter des Aufsichtsbeamten. Nach einer viertel Stunde bin ich an der Reihe. Ich schiebe das Ticket über den Tresen und bemühe mein Abendschulenglisch. Der Officer jedoch - ganz französischer Staatsbeamter - versteht nur französisch oder Bahnhof. Er schüttelt den Kopf und sagt dauernd etwas von Point-a-Pite. „Yes, allright! Ich want take a flight to Point-a-Pite.“ Unklare Worte wechseln über den Schalter wie Fußgänger über eine belebte Kreuzung ohne Ampel.     nach oben

Der Officer rollt

mit den Augen und zeigt nach draußen. Irgendeiner vom Flughafenpersonal packt  mich am Arm. Come on, hurry. Wir hasten durch die Hallen zum Rollfeld. Hinter  mir schließt sich die Kabinentür mit dem schmatzenden Laut einer zufallenden Kühlschranktür. Wieder schleife ich schweißtreibendes Gepäck durch die Reihen. Erst nach hinten, ist aber alles besetzt und dann wieder ganz nach vorn gewiesen. Wie lang doch so ein Fliegerdings ist! Endlich sinke ich neben einer wohlgerundeten dunkelhäutigen Schönheit in den Sessel. Uff. Mir dämmert, dass dies nur eine Zwischenlandung war und ich beinahe die Maschine verpasst hätte. Meine Knie beginnen nachträglich zu zittern. Ich hatte nämlich einen der besonders preiswerten Vacancees gebucht bekommen, einen Gelegenheitsflug mit der Bedingung: fester unveränderlicher Hin- und Rückflugtermin, bei Nichtantritt keine Rückerstattung!

In der Touristenklasse ist es gemütlich wie in einem zu engen Klo. Nur die Rundumsicht ist weiter. Die Passagiere sitzen in Zehnerreihen: drei links, drei rechts und im Mittelblock vier nebeneinander. Ich bekam zunächst einen Mittelplatz und dadurch keine Chance zu einer Aussicht. Aber über Meer und Wolken war sowieso nicht mehr zu sehen als ein blanker blauer Himmel. Nun aber sitze ich in einer Außenreihe. Das Herz findet zu seinem gewohnten Rhythmus zurück. Und ich spähe, sooft gerade schicklich, über einen von weißer Spitze gerahmten karamelfarbenen Brustansatz hinweg, hinaus in das Abendlicht. Eine bezaubernde Aussicht, in jeder Hinsicht! Bonbonrosa Wölkchen in harmonischem Kontrast zu der tintenblauen See schimmern in den letzten Sonnenstrahlen. Die B 747 passiert Dominica. Da unten, denke ich, und mein Herz hüpft einige Extra-Systolen. Später. Noch erinnert das moosgrün und grauschwarz gesprenkelte Felseiland nur an ein mit Maschinenschaden auf dem Wassser liegendes Schlachtschiff! Um 18.30 Ortszeit landet der Jumbo nach elfstündigem Flug in Point-a-Pite auf Guadeloupe.     nach oben

Guadeloupe

Schon 345 Jahre vor meiner Ankunft, also 1635, richteten sich die ersten französischen Ansiedler auf Guadeloupe häuslich ein. Seitdem haben sie diese Inselgruppe und Martinique - beide ab 1674 ein einheitlicher Verwaltungsbereich - fest in ihrer Hand. 1848 wurde die Sklaverei aufgehoben. 1946 erhielten die Inseln den Status von formal den Departements Frankreichs gleichberechtigten Überseedepartements. Ich bin also immer noch in Frankreich! Die Bevölkerung besteht zu zwei Dritteln aus Mulatten, einem knappen Drittel Afrikaner und einigen Prozent Kreolen. 1970 zählte man rund  330 000 Einwohner, im Jahr 2000 werden es schon 425 000 sein.

Guadeloupe besteht aus der Hauptinsel gleichen Namens, deren beide Teile - Grand und Basse Terre - ein mehrere Dutzend Meter breiter Meeresarm trennt; sowie einigen Nebeninseln. Die beiden Teile Guadeloupes haben eine ungefähre Ausdehnung von 45 Kilometer in der Länge. Grand Terre verdankt seine Existenz den über zigjahrtausende unablässig Kalk produzierenden Korallentieren. Das äußere Bild prägen landwirtschaftliche Nutzflächen und Weiden. Bananen und Zuckerrohr sind die wichtigsten Anbau- und Exportartikel. Die Struktur Basse Terres formten unregelmäßige Ausbrüche von Vulkanen. Folglich ist - im Gegensatz zu Grand Terre - die andere Insel stark zerklüftet. Drei Bergmassive ragen über tausend Meter empor. Durch das immerfeuchte Klima sprießen besonders im Westen üppige Wälder. Im Süden der Insel liegt Basse Terre, die gleichnamige Hauptstadt Guadeloupes. Und der dazugehörige Flughafen ist Point-a-Pite.

Wieder gerate ich in einen farbenfrohen exotischen Strudel aus dunkelhäutigen Menschen, fremdartigen Kulissen, tausenderlei neuartiger Sinneswahrnehmungen. Ein junger Farbiger zuckt mit übersteuertem Kofferradio im Arm selbstvergessen durch eine kleine Ladenstraße. Mein Rucksack erscheint auf dem Transportband. Die nächste Maschine weiter nach Dominica, dem Ausgangspunkt eines Tauch- und Segeltrips durch die Kleinen Antillen, fliegt erst Morgen früh. Ich entscheide mich für die billigste Übernachtungsmöglichkeit: eine Bank im Flughafen! Draußen fällt die Nacht herab gleich einem dunklen Vorhang.

So gegen zehn Uhr klingt der Airportbetrieb ab. Die Läden schließen. Die letzten Angestellten verlassen die Halle. Die Türflügel bleiben aber weit offen. Die Geräusche der tropischen Nacht fluten herein: Das Gezirp von Zikaden, grelle Vogelschreie und andere merkwürdige Geräusche. Ich verlasse zögernd meinen Gepäckstapel und trete kurz vor die Tür. Die Luft umfängt mich wie warmer schwarzer Samt.

Auch ein Farbiger hat es sich auf den Bänken bequem gemacht. Wir sind die einzigen in der Halle. An Schlaf ist vor Aufregung natürlich nicht zu denken. Nur einmal schlendert eine Flughafenwache  durch das Gebäude. Um halb sechs läuft der Betrieb wieder an. Ich wasche mich in der Flughafentoilette und esse die Reste aus dem Verpflegungsbeutel der Air France. Ich schaffe mein Gepäck vor den Abfertigungsschalter der Fluglinie nach Dominica.     nach oben

Dominica

liegt 35 Kilometer südlich von Guadeloupe, ist ungefähr 50 Kilometer lang und mit einer Fläche von 750 Quadratkilometer nicht einmal ganz so groß wie Berlin. Politisch ist es ein mit Großbritannien assoziierter Staat. Dominica  heißt Dominica, weil im Lateinischen Sonntag Dominica heißt. Ein Wortspiel und zugleich Realität: Kolumbus entdeckte am 3. November 1493 diese Insel. Es war just Sonntag und vielleicht viel zu heiß, um Originelles auszudenken. Also Dominica. Ab dem 17. Jahrhundert stritten die Franzosen und Briten um den Besitz. Der Friedensvertrag von 1814 sicherte Dominica endgültig der englischen Krone.

Dominica ist ein schroff aus dem Meer ragender Felsblock vulkanischen Ursprungs, von tiefen Schluchten zerfurcht und überwiegend mit tropischem Regenwald bedeckt. Mahagoni, Zedern, Mangos und Balas wachsen manchmal an fast senkrechten Hängen. Der höchste Berg Dominicas und zugleich der Kleinen Antillen ist mit 1615 Meter der Morne Diablontin. Etwa 100 Flüsse mit ebenso vielen Wasserfällen und mehr als 200 Gebirgsbäche schäumen talab. Der Boiling Lake, ein 90 Meter langer kochender Kratersee und heiße Schwefelwasserquellen zeugen von lediglich schlummernden seismischen Aktivitäten. Im Gebiet um den 1400 Meter hohen Morne-Trois-Pitons (Berg mit den drei Gipfeln) liegt der 1975 gegründeter M-T-P-Nationalpark. In seinen undurchdringlichen Regenwäldern mit bis zu 30 Meter hohen Bäumen leben 135 Vogelarten wie Kolibris, Hühnerfalken und seltene Papageien. Einheimische Säugetiere gibt es kaum. Die meisten hier und überhaupt auf den Kleinen Antillen lebenden Arten brachten die Europäer mit auf die Inseln.

Dominica hat ungefähr 72 000 Einwohner. Die Arbeitslosigkeit ist mit rund 40 Prozent hoch, der Lebensstandard niedrig. Es gibt keine nennenswerte Industrie, auch keine „Fremdenindustrie“. 1980 befinden sich auf der ganzen Insel nur vier kleine Touristenhotels. Die Ausfuhr beschränkt sich auf Agrarerzeugnisse: Südfrüchte, Kakao, Gewürze, Fruchtsäfte, Konserven und Rum. Im Gegensatz aber beispielsweise zu Haiti leidet hier kaum jemand an Hunger.

Die Insel ist sehr fruchtbar. In jedem Monat fällt Regen und jedem Monat reift Essbares: Bananen, Citrusfrüchte, Mangos, Melonen, Passions- und Brotfrüchte und was weiß ich. Dazu Gemüse, Kartoffeln, Hühner, etwas Fischfang, Dienstleistungen, Aushilfe auf den Plantagen, kleine Handwerks- und Volkskunstarbeiten. All dies genügt gewöhnlich, die elementarsten Bedürfnisse zu stillen. Und das ist in einer Welt, in der mindestens ein Viertel aller Menschen hungert oder gar verhungert, schon wieder recht viel.     nach oben

Der Flug

in der kleinen Linienmaschine von Gouadeloupe nach Dominica dauert kaum eine halbe Stunde. Vor dem Flughafengebäude bedrängen mich ein halbes Dutzend Taxifahrer. Ich gebe rasch die Hoffnung auf, abgeholt zu werden und lasse mich in ein Sammeltaxi verfrachten. Es ist mit geduldig Wartenden bereits gut gefüllt. Ich zwänge mich hinein. Der Fahrer schiebt nach, hätte ich fast gesagt, schlägt die Tür zu und ab geht es. Wir sitzen eng, aber preiswert.

Der alte Ford schaukelt uns bald durch atemberaubende Landschaften: An Bananenplantagen vorbei, ärmlichen Siedlungen der Einheimischen, durch tropische Regenwälder, entlang wilder Täler und schäumender Flussläufe. Und immer wieder Palmen, für mich bisher das nur von Bildern, Filmen und aus Büchern bekannte Symbol der Tropen! Ein Jammer, dass ich nicht zum Fotografieren komme. Und natürlich lautstark karibische Rhythmen aus dem Autoradio. Einmal entlädt sich eines der prächtigen Wolkengebilde. Der Guss ist von kurzer Dauer. Die Regenzeit ist so gut wie zu Ende. Irgendwann steigen einige Leute aus.

Noch fehlen mir Vergleichsmöglichkeiten. Aber es ist schwer vorstellbar, dass es noch schönere Inseln als Dominica in den Kleinen Antillen geben mag. Denn womit wollten diese überbieten?

Nach anderthalb Stunden erreicht unser Taxi das avisierte kleine Hotel. Ich zahle 10 US-Dollar. Vor dem Hotel steht ein Landrover. Männer verladen Druckluftflaschen. Noch ehe ich mich richtig erklärt habe, sagt der aus Westdeutschland stammende Hotelmanager: "Stelle doch dein Gepäck in der Rezeption ab und komme gleich mit. Wenigstens Schnorcheln."     nach oben

Wenn Fortuna,

die Glücksgöttin, ihr Füllhorn schüttelt, ergießt sich bekanntlich ihr Segen in recht unterschiedlicher Quantität auf uns Irdische. Ich aber kann nicht klagen. Und gewiss hatte Fortuna auch bei dem folgenden Ereignis die Hand mit im Spiel: Bereits 36 Stunden nach meinem Abflug aus dem kalten Europa, am Donnerstag, den 13. November 1980, so gegen 11 Uhr tauche ich erstmals mein Gesicht in die 2,75 Millionen Quadratkilometer Karibik.

Schwimmflossen, Maske und Schnorchel übergestreift und hinein ins Wasser. Seit 25 Jahren bin ich es gewohnt, beim Durchbrechen der Wasseroberfläche in eine Art grünlichen Nebel zu schauen. Unsere Binnenseen erlauben allenfalls Sichtweiten von wenigen Metern. Grün schimmerndes Wasser, grüne Pflanzen und Herbstfarben dominieren. Und nun dies: Helligkeit, bunte Farben, seltsame Formen, Weite. Die Sicht liegt bei 15 bis 20 Meter. Es ist, als ob man eine Tür aufreißt und anstelle in das gewohnte, ein wenig melancholische Zimmer plötzlich in einen kristallfunkelnden Saal blickt mit einem rauschenden Maskenball. Und mein Blickfeld weitet sich zu einer großen Wunderwelt. Ich treibe staunend an der Oberfläche. Heller Sand bedeckt in Ufernähe den rasch abfallenden Grund. Hier und da stehen kleine Korallenstöcke, um die sich bunte Fische tummeln. Schwämme und viele langstachelige Seeigel sind - neben den Fischen - die auffälligsten Bewohner. Weiter draußen reißt die Bodenlinie jäh ab. Dahinter schimmert nur noch tiefblaues Wasser.

Ich knicke vornüber und strecke sekundenlang die Flossen in die Luft. Deren nun nicht mehr vom Auftrieb kompensierte Masse drückt mich ohne großes Geplätscher unter die Oberfläche. Ein Armzug vollendet den Abtauchvorgang. Ich gleite hinab, muss aber sogleich tüchtig mit den Flossen nachhelfen. Durch den hohen Salzgehalt besitzt das Seewasser einen ungewohnt starken Auftrieb.

Mich umfängt - nein, keine Stille! Ein gut hörbares Knistern, Rauschen, Knacken, Schurren und Prasseln erfüllt die ufernahe Zone: die Töne des Wellenschlags, das Mahlen von Geröll und Schaltierresten in den Brandungswirbeln und all die Laute der Tierwelt wie Verständigungssignale und Fressgeräusche. In etwa vier Meter Tiefe ist vor allem durch Kompression des Brustkorbes meine Verdrängung genügend geschrumpft: Ich schwebe auf einen Korallenstock zu, mit ausgebreiteten Armen und Beinen steuernd, ähnlich einem Fallschirmspringer. Ich lande in etwa sechs Meter Tiefe im Sand neben dem Korallenblock. Das prächtige meterhohe Gebilde besteht aus mindestens drei verschiedenen Korallenarten und ist dicht bewohnt. Fische schießen durch das Geäst. Röhrenwürmer schwingen ihr feinen Tentakel. Ein Seeigel sucht nach Nahrung. Alles ist fremdartig und von verwirrender Vielfalt. Ich staune, bis mir der Atem ausgeht.     nach oben

Einige rasche tiefe Atemzüge

stabilisieren zwar den Gasstoffwechsel, aber nicht den emporgeschnellten Puls. Der hat psychische Ursachen. Bloß wieder hinab. Abermals tauche ich in den Ballsaal mit seinem geheimnisvollen Gezischel. 3 - 5 - 8 Meter. Man merkt gar nicht, wie flott es in die Tiefe geht. In unseren Binnenseen wäre es nun bereits unheimlich: dunkel, kalt und der Grund trostlos kahl. Jetzt sehe ich deutlich die Abbruchkante des Meeresgrundes. Steil scheint der Boden ins Unermessliche abzufallen. Das rechte Ohr schmerzt. Schwierigkeiten mit dem Druckausgleich. Ich steige höher, bis das Stechen im Ohr abklingt und schwimme zu einem anderen Block. Wie diese Welt nur beschreiben? So die Klage wohl aller Neulinge in tropischen Unterwasserlandschaften.

Einsetzender Lufthunger mahnt zur Rückkehr. Widerstrebend verlasse ich den Korallenstock. Noch besitzt er für mich die Ausstrahlung jener abstrakten Malerei, die als „schön“ empfunden wird, ohne dass sich dieser Eindruck mit nachprüfbaren Fakten belegen ließe. Auch biologische Details vermag ich noch nicht zu unterscheiden, allenfalls in grobe Einteilungen wie Weichkorallen, Schwämme, Röhrenwürmer, Seeigel und Fische.

An der Oberfläche noch nach Luft japsend, kann ich es kaum erwarten, wieder im Meer zu versinken. Dabei ist die Szenerie eher karg im Vergleich zu jenen Landschaften, die auf dieser Reise noch zu durchmessen sind. Die Larven der Korallenpolypen und Schwämme benötigen nämlich zur Ansiedlung festen Untergrund. In der seichten sandigen Bucht aber bieten sich wenige Kolonisationsmöglichkeiten, zumal Stürme aufkeimendes Leben leicht wieder verschütten. Deshalb stehen lediglich knie- bis gut mannshohe Korallenformationen vereinzelt herum wie Büsche in der Wüste. Freilich genügt Tropic-Greenhörner bereits gute Sicht, Wasser von etwa 26 Grad Celsius und eine bescheidene, aber noch nie geschaute Fauna, um in Freudenstürme auszubrechen. Bereits wenige Jahre später würde ich mich nur vage an das Geschaute erinnern - zu viele andere reizvollere Bilder überfluteten die ersten Eindrücke -, unvergessen aber bliebe das Gefühl tief empfundenen Glücks.

Nach einer dreiviertel Stunde treibt mich einsetzendes Frösteln zurück an das Ufer. Ich trenne mich mit dem Wissen, dass von nun an die Zeit nicht schnell  genug vergehen werde, bis ich mit dem Tauchgerät und der Unterwasserkamera in diese Welt zurückkehren kann.

Eigentlich sollte ich kostenlos in dem Häuschen von Bert, dem Tauchguide, mitwohnen. Da er dies aber schon wieder anderweitig vergeben hat, schlafe ich in der Villa von Klaus, einem Ökonom und UNO-Mitarbeiter. Ebenfalls gratis. Klaus, hier nennen sich alle beim Vornamen, soll die Regierung Dominicas bei der Lösung von Wirtschaftsproblemen beraten. Doch sein einziger Erfolg bisher, so klagt er, sei die Verhinderung eines riesigen amerikanischen Hotelneubaus gewesen. Man ignoriere alle Vorschläge und Empfehlungen. Es sei ein Kampf gegen Windmühlen. Er sehne sich zurück zu seinem früheren Arbeitsbereich in Afrika.     nach oben

Ich bleibe mindestens zwei Tage

auf Dominica. Und in dieser Zeit besuchen wir unter anderem eine „Urwaldrestauration“ mit einer Thermalwasserquelle. Wir klettern in ein großes, mit warmen Wasser gefülltes Betonbecken. Die Wirtin legt Bretter über den Rand und serviert darauf so etwas wie kleine Pfannkuchen und Rumpunsch. Aus einer Leitung läuft ständig frisches, warmes Wasser nach. Daher schwinden Hygienebedenken und wir lehnen uns entspannt zurück.

Dann ist da die von Klaus vermittelte Cocktailparty bei irgendeiner Inselgröße. Es gibt alkoholfreie Fruchtsaftgetränke und auf silbernen Tabletts ganz kleine Appetithäppchen. Schicke junge Damen in exotischen Gewändern schweben mit den Tabletts von Gast zu Gast. Ich bemerke, dass sie schon nach wenigen Rundgängen die Taucher zu übersehen beginnen. Wir sind doch nicht etwa durch übermäßigen Appetit unangenehm aufgefallen?

Und irgendwo liegt in diesen beiden Tagen auch noch ein durch Einreißen geliehener Schwimmflossen und wegen zu starker Brandung nicht zu Stande gekommener Tauchgang.

Aus meinem Taucherlogbuch: Mittwoch, 14. November, vor dem Sissero-Hotel, nachts, Sicht unter Wasser 15 Meter, Wassertemperatur 26 Grad Celsius, Tiefe 32 Meter, Tauchzeit 40 Minuten.

Nachts bedeutet hier nach Einbruch der Dunkelheit. Und so ist es bereits um halbacht tiefste Nacht. Das nennenswerteste des Tauchgangs ist das hässliche Knacken, mit dem meine Kamerafrontscheibe springt. Ich stoße unartikulierte Laute aus, um die Aufmerksamkeit von Klaus auf mich zu lenken. Er richtet seine Lampe auf mich. Ich drehe die Kamera um und schaue in das Gehäuse. Quer über die Scheibe zieht sich ein Riss. Wasser dringt aber nicht ein. Auftauchen? Ich schüttele den Kopf. Man ist ungern Ursache für den Abbruch eines Tauchgangs und es passiert auch weiter nichts.

Den Rest des Abends verbringe ich mit dem Versuch, die Frontscheibe des Kameragehäuses auszuwechseln. Ich habe ein Ersatzglas mit. Bis auf zwei Schrauben des Überwurfringes brechen alle. Ich ziehe den Ring und die alte Scheibe ab. Aber wie ohne Schrauben die neue einsetzen? Klaus hat die rettende Idee und auch das Mittel dazu, einen schnell härtenden Zweikomponentenkleber! Die Paste zieht an, noch ehe ich die Scheibe richtig auf ihren Sitz presse. Die Klebestellen sind blasig und bestimmt nicht dicht.     nach oben

In der Marigot Bay

Am Sonnabend, den 15. November, sitze ich hinter Willm und Pierre in einem beuligen VW-Käfer. Die anderen Taucher fahren mit dem Landrover und in einer etwas anderen Route. Mühsam quält sich das rostnarbige Gefährt über die Bergstraßen Dominicas. Wir wollen via Roseau und der Transinsular Road quer über die Insel hinüber zur Marigot Bay fahren, um auf der Atlantikseite Dominicas zu tauchen. Ich rekele mich zufrieden auf den blanken Sprungfedern.

„Something is wrong!“ Willm, ein junger französischer Zahnarzt aus Lyon, der hier als Dentist seinen Wehrersatzdienst ableistet, schüttelt bedenklich den Kopf. Der Mietwagen schafft es kaum den Berg hoch. Jean und ich verstärken die Motorleistung um zwei MS (Menschenstärken), will sagen, wir schieben. Willm schaltet die Zündung aus und öffnet die Motorhaube. Es stellt sich heraus, dass der Verleiher mit dem Motoröl sparte. Will kann sich eine Flasche von einem zufällig vorbeikommenden Bekannten ausleihen. Wir lassen den Motor abkühlen. Ich, nun ja, entwende einige Grapefruits als Notration. Bestimmt haben auch die dicht an der Straße stehenden Bäume einen Besitzer. Er wird es verwinden. Schließlich erreichen wir auf der Atlantikseite das Dorf La Balain. Lange Dünungswellen rollen landein und branden schäumend an der Küste - welch ein Gegensatz zu der uns nun lieblich erscheinenden Karibikküste. La Balain erweist sich als eine Ansammlung einfachster Bretterbuden. Das Geländefahrzeug des Sissero-Hotels mit den anderen Tauchern wartet schon am Strand.

Wir mieten zwei Fischerboote, schlüpfen in die Taucheranzüge und fahren hinaus auf das Meer. Sharks, Haie? Oh yeah, antwortet ein Fischer, big sharks! Und ein anderer nickt bekräftigend mit dem Kopf. Mir ist wie vor einer wichtigen Prüfung mit sehr unsicherem Verlauf. Der Tauchguide befiehlt: Sammeln am Grund! Er besitzt zur Haiabwehr eine Harpune mit einer Sprengladung an der Spitze, einen so genannten Bangstick - und wir nur das Wissen, dass Haie Menschenfleisch eigentlich nicht mögen . . .

Als ich mich rücklings ins Wasser plumpsen lasse, schwingt etwas von der Befürchtung mit, ich könne geradewegs in den aufgerissenen Rachen eines Haies fallen. Wir sprachen wohl zu viel über dieses Thema. Der Meeresgrund liegt etwa 20 Meter tiefer. Von oben sieht es aus, als schwebe man über eine karge dunstige Ebene. Von Haien natürlich keine Spur. Zwei Taucher sind bereits am Grund. Ich überprüfe meine Ausrüstung. Der Druckmesser des 10-l-Einflaschengerätes steht bei 180 bar. Ich lasse Luft aus der Tarierweste. Zuerst gemächlich und dann immer schneller sinke ich hinab. Schwierigkeiten mit dem Druckausgleich. Zunehmendes Stechen auf den Trommelfellen. Ich halte die Nase zu, schlucke und presse Luft gegen die Nasenflügel. Gemächlich sickert Luft aus dem Nasen-Rachenraum durch die verquollenen Eustach’schen Röhren in das Mittelohr. Es knackt. Der Druckausgleich ist hergestellt und der Schmerz augenblicklich weg.     nach oben

Die Unterwasserlandschaft

ist karg und wesentlich artenärmer als auf der karibischen Inselseite. Da und dort stehen verkrüppelte Geweihkorallen, manchmal auch ein Hirn- oder anderer Steinkorallenblock. Nur wenige Weichkorallen, einige niedrig bleibenden Schwammarten, kaum Fische. Der Szenerie ist anzumerken, dass hier beträchtliche Strömungen über die Gründe zu fegen scheinen. Und vielleicht auch die Nähe eines Fischerdorfes.

Als alle Taucher versammelt sind, schwimmen wir los in Richtung Afrika, voran der Tauchguide und Klaus mit seiner kleinen Nikonos. Willm hat auch eine Harpune, aber nicht zur Haiabwehr, sondern um Fische zu jagen. Er und Jean schlagen sich seitwärts in die, na ja, „Büsche“. Über uns, an der grau mattierten Oberfläche, schweben die beiden Fischerboote.

Der Guide - oder Klaus, wer führt? - spurten los. Gilt es einen Rekord? Die Strömung wird immer stärker. Ab und an halte ich mich zum Verschnaufen an einem derben Korallenast fest. Nur gut, dass ich keine Kamera mit habe! Mit dem Red Monster wäre das Tempo nicht zu schaffen. Vorne gibt es einen Auflauf, dann zwei Blitze. Eine große Schildkröte, erfahre ich später. Über uns brummen die Außenborder der Fischer. Nach einer knappen Stunde lesen sie uns wieder auf. Ich habe von der Unterwasserwelt kaum etwas mitbekommen. Irgendein Taucher klagt: Mein Gott, war das eine Jagd! Der Volkszorn entlädt sich. Wir fallen über die Anstifter her. Abwehrend hebt der Tauchguide beide Hände . . .

Und von den Haien natürlich auch keine Spur. Die zu gleichen Teilen befürchtete wie erhoffte Begegnung mit Haien fand nicht statt. Und wieder einmal bestätigten sich die Berichte, dass es in den meisten Seegebieten schwer ist, überhaupt einen Hai zu sehen - geschweige denn, sich von ihm beißen zu lassen. Logbuchdaten: Sicht unter Wasser 15 Meter, Wassertemperatur 26 Grad Celsius, Tiefe 25 Meter, Tauchzeit 60 Minuten.     nach oben

Die Rücktour

führt durch das Carib-Indianer-Reservat. Im Reservat leben ungefähr 600 Kariben, also Nachkommen jener Indianer, die vor Kolumbus’ Ankunft die Insel bevölkerten. Ihre Zahl hat sich seit 1900 verdoppelt. Sie besitzen eine gewisse Unabhängigkeit und leben vom Fischfang, dem Bootsbau, Flechtarbeiten und den Erträgen aus ihren Feldern und Gärten. Die Hütten stehen auf Pfählen und sind größer und schöner als die der meisten Dominicaner. Vor den Bauten wachsen Blumenarrangements. Eine Ziege wird geschlachtet. Ich fotografiere nicht. Meine große Kamera ließe sich hier kaum tarnen und ich möchte sie nicht einfach den Indianern vor die Nase zu halten.

Wir stoppen bei einem Bootsbauer. Ähnliche Kanus lagen auch in La Balain. Willm fragt, ob wir fotografieren dürften. Oh yeah, antwortete er, but one Dollar, please! Das „oh yeah“ ist anscheinend eine beliebte Redensart, das mit dem Dollar ist mir neu. Der hier gültige East-Caribean-Dollar hat etwa den Wert von einer Mark. Willm greift in die Hosentasche. Das schön geschwungene Boot wird mit der Axt aus einem Baumstamm gehauen. Zwei Tage dauert es, sagt der Mann. Wir sind skeptisch. Vielleicht meint er zwei Wochen?     nach oben

Sonntag, den 16. November:

In meinem heimatlichen Schlafraum lärmt nie irgendeine Art Läutwerk. Mir genügt der „innere Chronometer“. Die Gewohnheit justiert ihn auf etwa 6 Stunden nach Mitternacht. Wie alle Uhren besitzt auch die innere Laufzeitdifferenzen. Freilich geht sie nur im Sommer gelegentlich vor, öfter schon bis zu einer Stunde nach. Auch hier in der Karibik tickt die Uhr noch im alten Zeitmaß, wenn auch bereits erheblich irritiert. Jetlag.

So um 4.30 Ortszeit flieht trotz äußerst kurzer Nachtruhe endgültig aller Schlaf. Ich setze mich im Wohnzimmer in einen der niedrigen weichen Sessel. Mein Blick schweift durch die schön geflieste Halle mit dem sparsamen, aber modernen Mobiliar, den tropischen Kübelpflanzen, den großen Fenstern mit schräggestellten Jalousien. Sanfte harmonische Farbtöne schwimmen im ersten Tageslicht. Duftige Gardinen wallen. Atem und Stimme der Karibik wehen durch das offene Fenster. Unterhalb des Hauses, vielleicht ein halbes Dutzend Meter tiefer, brandet das Meer. Hellwach und doch träumend verfolge ich das unendliche Spiel landein rollender Wellen. Das dunkelviolett schimmernde Wasser beginnt sich zu verfärben, wechselt ins Lachsrosa, um dann abermals - mit steigendem Sonnenstand - in das vielfältig abgestufte Blau des Tageskleides hinüberzugleiten. Welch Schauspiel! Aber ach, klagte schon Goethes Faust, ein Schauspiel nur. Nur?

So um acht Uhr - es ist Sonntag und Klaus schläft immer noch - schultere ich das Fototäschchen und mache mich auf den Weg zum Sissero-Hotel. Wolkenfetzen sprenkeln den lichtblauen Himmel. Die Temperatur dürfte bei etwa 25 Grad Celsius liegen.     nach oben

Der Weg

ist hier die Küstenstraße am Stadtrand von Roseau. Auf der Uferseite säumen Bretterbuden die Straße. Vor dem Häuschen sitzen, schwatzen, rauchen, arbeiten dunkelhäutige Menschen. Eine angerostete „Singer“ rattert. Kehlige Rufe, Gelächter, karibische Musik aus viel zu laut aufgedrehten und viel zu kleinen Kofferradios. Der Rauch von Kochfeuern schwebt über den Hütten. In einer Rinne entlang der Fahrbahn fließt Spüllicht. Grüße à la Dominica - lässiges Heben des gestreckten Zeige- und Mittelfingers - wechseln die Straßenseite.

Ich überlege, wie ich preiswert an eine Art Frühstück gelange. Im Hotel kostet allein schon ein Kännchen Tee 5 E.C.-Dollars! Von Lebensmittelläden oder Gaststätten keine Spur. Eine Art „Schankstelle“ oder „Stehcocahalle kommt in Sicht. Es ist eine der üblichen winzigen Hütten. Die mit Gaze bespannte Tür ist nach innen geschlagen. Über dem Eingang erstreckt sich ein Vordach aus Wellblech. Ich stellte mich gern zu den dunkelhäutigen Leuten, tränke eine Cola, äße gebratene Eier und hörte zu, wäre neugierig auf ihre Alltagsgespräche. Oder wenigstens das, was ich dafür hielt. Die Sprache sollte kein gravierendes Hindernis sein. Die meisten Dominicaner sprechen Englisch. Englisch ist auch die Amtssprache und in der Schule Pflichtfach.

Aber Scheu, mein reserviertes Ego und diverse Ressentiments (von denen ich einige kenne, sie aber nicht, noch nicht, zu überwinden vermag!) lassen mich zögern. Leider ähnelt manch unserer Verhaltensmuster der ärgerlichen Situation übergroßer Schüchternheit. Wir wissen sie unbegründet, vermögen aber selbst mit strengstem inneren Befehl wenig zu ändern. Wer kennt das nicht: Jetzt zählst du bis drei und dann tust du dies oder das . . . oder du gehst auf der Stelle! Man zählt bis drei, dann das Ganze dreimal - und man geht doch nicht. Was zuletzt stirbt, ist die Hoffnung, heißt es. Ich freilich gehe, nämlich weiter. Die Rettung, wenigstens aus leiblicher Not, bringt eine viertel Melone. Ich kaufe sie zwei älteren Frauen ab, die am Straßenrand sitzen neben einem halben Dutzend dieser Früchte. So erreiche ich schließlich das Hotel, leidlich gesättigt und mit verklebtem Bart.     nach oben

Scott’s Head

Eine Stunde später saust der Landrover des Sissero-Hotels nach Scott’s Head, einer kleinen schroffen Dreiviertelinsel im Süden Dominicas. Francis, der einheimische Fahrer, hat die 25-W-Stereoanlage voll aufgedreht. Wir stehen auf den Sitzen und wippen im Rhythmus des Raggae und der Schlaglöcher. Die Küstenstraße endet in einem Fischerdorf. Wieder werden zwei Boote gemietet. Sie fahren uns zu einem Riff hinaus. Ich habe zum Testen das leere Kameragehäuse mit und halte mich an Klaus. Wir stürzen uns ins Meer. Rasch die Lage gepeilt. Ringsum nichts als blaues Wasser. Es soll hier rund 25 Meter tief sein. Die Ausrüstung ist okay. Der Atemregler gibt einwandfrei Luft. Wir wechseln das Taucherhandzeichen für „Alles okay“ und entlüften die Tarierwesten.

Das Abtauchen ins Blaue verursacht augenblicklich Unbehagen. Mit dem Schwinden des Horizonts oder anderer optischer Bezugspunkte fällt nämlich nach der scheinbaren Schwerelosigkeit und dem Tast- und Drucksinn (etwa die Fußsohlen auf der Erde) nun auch noch das vorletzte Sensorsystem zur Raumorientierung aus. Es bleiben lediglich die Lagemeldungen der „Schweresteinchen“ im Innenohr - zu wenig, als dass nicht Adrenalin ins Blut schösse, Puls und Atmung sich beschleunigten und der Taucher bald in eine kopflose Panik geriete, die jedes sinnvolle Handeln ausschlösse! Aber mit einem binnen weniger Minuten erfolgenden „Wiedereinschalten“ ausgefallener Sensorsysteme - etwa durch Orientierung nach der Ankerleine, Beobachten und Anfassen des Partners, Sichtkontakt mit dem Grund oder Bodenberührung - lässt sich leicht der tödlich endende Prozess stoppen. Der Druckausgleich klappt leidlich. Die Eustach’schen Röhren genannten Verbindungsgänge zum Mittelohr beginnen langsam die ungewohnte Aufgabe zu akzeptieren. Nach wenigen Metern kommt der Meeresboden in Sicht.

Sofort schwindet die Furcht. Wir sinken durch einen Schwarm gelbgebänderter Grunzer. Der Schwarm teilt sich in zwei wohlgeordnete Formationen. Wir erreichen den Fuß eines Felsabsturzes. Der erste Eindruck: kaum Korallen, aber welch ein Reichtum an Fischen! Die Sicht mag vielleicht 20 Meter betragen. Der Tiefenmesser läuft über die 25-Meter-Marke.

Schroff streben düstere Hänge zur Oberfläche. Man ahnt noch den vulkanischen Ursprung: schwarze Lava! Spalten öffnen sich. Schluchten teilen die Steinblöcke. Es ist grandios oder wie es hier heißt: It is great! Klaus steuert nach kurzem Orientieren stracks zu einer Gruppe von Röhrenwürmer, die wie Blumen aus den Felsen zu  sprießen scheint.

Klaus arbeitet mit zwei Nikonos III, handliche und ohne separates Gehäuse wasserdichte Kleinbild-Sucherkameras. Eine Kamera ist mit dem exellenten 15-mm-Weitwinkelobjektiv bestückt, die andere mit einem 35-mm-Objektiv und einem Zwischenring für Nahaufnahmen. Beide Kameras sitzen samt Blitz auf einer Schiene. Alles zusammen wiegt nicht mehr als mein leeres Kameragehäuse! Klaus kann den Stecker des Blitzgerätes unter Wasser trennen und mit der jeweils eingesetzten Kamera kuppeln.     nach oben

Röhrenwürmer

sind oft wunderschön, versetzen mich aber nicht mehr so in Euphorie. Leider gewöhnt man sich viel zu schnell an optische Paradiese. Ich kenne einige Arten nun schon aus dem Mittelmeer. Bei Gefahr, ja den geringsten Erschütterungen, ziehen sich die Röhrenwürmer zurück in die Röhre, sehr zum Leidwesen von Klaus. Vor seinem Objektiv für die Nahaufnahmen sitzt nämlich ein U-förmiger Rahmen zum Bestimmen des Bildausschnittes und Aufnahmeabstandes. Die Annäherung erfordert teuflische Behutsamkeit und Engelsgeduld, um die Würmer mit dem Rahmen nicht zu erschrecken. Da hätte ich das Einstellen mit der großen Mattscheibe meiner 6x6-Zentimeter-Spiegelreflexkamera leichter. Hätte! Ich linse in das Gehäuse. Wassertropfen sprenkeln die Innenseite der Kamerafrontscheibe. Also keine Karibik-Aufnahmen. Ich nehme die Lage gelassener, als ich sollte. Äußert sich so das Anfangsstadium des Tiefenrausches? Immerhin befinden wir uns nun in 30 Meter, also jenem Bereich, in der bei tiefenungewohnten Tauchern die Inertgasnarkose einsetzen kann. Und ich bewege mich seit 20 Jahren nur in den Uferregionen der Binnengewässer, also allenfalls in Tiefen um fünf bis zehn Meter.

Die kurzen Schluchten zwischen den Felsen wirken wie Düsen. Das sich stauende Wasser schießt mit beachtlicher Geschwindigkeit hindurch. Je nach Schwimmrichtung kostet die Passage viel Kraft oder nur einige richtungskorrigierende Flossenschläge. Wir sausen gleich Wildwasserkanuten durch einen Kanal. Die Strömung  hier an dem riesigen Felsbrocken, den lediglich einige Dutzend Meter freies Wasser von dem Uferabsturz trennen, befördern nicht nur uns, sondern vermutlich auch unzählige Nahrungspartikel. Dies würde auch die hier auffällige Ansammlung von Fischen erklären: Süßlippen, Grunzer und Schnapper, um nur die bekanntesten Familien zu nennen.     nach oben

Die Grunzer

sind meist recht geschätzte Speisefische. Im Urania-Tierreich (1967) findet sich die Erklärung für ihren seltsamen Namen: „Die Grunzer können die verschiedensten, weithin hörbaren Laute von sich geben. Wahrscheinlich geht die Vorstellung von den Sirenen der griechischen Sage zum Teil auf diese Fische zurück, den vogelgesichtigen Mädchen, die durch ihre Gesänge den Fischer ins Verderben locken sollten. Die Geräusche hören sich manchmal so an, als ob Kohlen in den Keller geschüttet werden oder wie das Rasseln schwerer Ketten, wie heiseres Krächzen oder ähnlich. Auch außerhalb des Wassers ‘grunzen’ die Fische und wenn man ihnen in das offene Maul schauen kann, dann ist zu sehen, dass sie diese Geräusche erzeugen, indem sie die oberen und unteren Schlundzähne aneinanderreiben. Die Schwimmblase dient dabei als Verstärker.“

Als ich tatsächlich grunzende Laute höre, ist es aber kein Fisch, sondern der Aufmerksamkeit erheischende Klaus. Er tippt auf seine Instrumente und deutet nach oben. Es wird höchste Zeit. Die Nadel des Dekompressiometers wandert bereits in den roten Bereich. Wir müssen in drei Meter Tiefe eine mehrminütige Auftauchpause einlegen.

Die Fischer warten an einer Reusenboje. Es hat mächtig aufgefrischt. Das schmale Boot und wir schaukeln in den Wellen. Das Ablegen der Ausrüstung und der Aufschwung ins schwankende Gefährt entwickelt sich zu einer hektischen Prozedur. Während der Fahrt zum Ufer registriere ich weiteren Schwund: mein Armband mit Uhr, Tiefenmesser und Kompass fehlt. Es muss beim Geräteablegen oder Einstiegsmanöver gerissen sein. Nun ruht still in der Karibik auch ein technisches Denkmal des VEB Glashütte Ruhla! Logbuchdaten: Sicht unter Wasser 20 Meter, Wassertemperatur 26 Grad Celsius, Tiefe 30 Meter, Tauchzeit 60 Minuten.     nach oben

Am frühen Nachmittag

fahren wir in Landesinnere. Schließlich schafft es selbst der Landrover mit seinem Allradantrieb nicht weiter bergauf. Wir schultern unser Bündelchen, indem sich nebst Fotokram - selbstverständlich! - auch Badehose, Schnorchel und Tauchermaske befinden. Die Wege wechseln in der Breite: schmale steile Buschschneisen, „Trampelpfadalleen“ durch Limonenhaine, lichte Wanderwege im Sonnenglast, gesäumt von Farnen, Gehölzen und Baumgruppen und allerromantischsten Ausblicken ins Tal. Im Hintergrund recken sich die allgegenwärtigen Berggipfel. Wir balancieren auf schwankenden Trinkwasserpipelines über einen mindestens fünf Meter tiefer liegenden Fluss. Das vorletzte Stück des Weges wäre, in einem vier bis fünf Meter breitem Cañon mit steilen meterhohen Felswänden stromauf zu schwimmen. Ich zögere eingedenk der irgendwo gelesenen Warnung, dass man nirgends im Süßwasser baden solle außerhalb von Europa und Nordamerika. Aber der Guide versichert: Das Wasser auf Dominica ist frei von Krankheitserregern. Roswitha bleibt als Taschenwache zurück.

Wir schnorcheln flussauf. Die enge steile Schlucht mit den senkrechten Felswänden und das trübe Wasser sorgen für eine beklemmende Atmosphäre. Fische huschen schemenhaft unter uns hindurch. Das Gefühl, über ungewisse Abgründe zu schwimmen und in geheimer Sorge um plötzliche Strömungen und Strudel steigern die Ängste. Aber bisher ist nur eine sanfte Wasserbewegung zu spüren. Am Ende des Cañons ist unser Vorstoß zu Ende: Ein normalerweise sanfter Flussabschnitt hat sich in reißendes Wildwasser verwandelt. Die Felsen bilden hier einen sich nach links öffnenden Kessel und rücken dann wieder auf drei Meter zusammen. Wie in den Spalten vor Scott’s Head erreicht in der schmalsten Stelle die sanfte Strömung nun eine beachtliche Geschwindigkeit. Unser Weg setzte sich an der Mündung auf dem rechten Ufer fort. Hier endet auch die Steilwand. Frontal auf der rechten Seite gegen den Strom zu schwimmen erweist sich als unmöglich. Wir versuchen von links aus dem Strömungsschatten des Kessels über den Grund auf das rechte Ufer zu tauchen. Die Theorie: Hindurch und im Moment des Auftauchens irgendwo am Ufer festkrallen. Aber erst einmal zum Krallen kommen! Tauchguide Bert schafft es auf Anhieb. Dann stoße ich in die Tiefe. Mich packt ein Chaos aus Wasser und Luftbläschen. Ich sehe absolut nichts und versuche wenigstens ungefähr die Richtung zu halten. Als ich auftauche, bin ich schon zwei Meter von der ausgestreckten Hand Berts entfernt. Mir scheint, dies gleiche irgendwie dem Versuch, gegen den einem überfüllten Verkehrsmittel entquellenden Menschenstrom einzusteigen. Nach mehreren Anläufen gebe ich auf. Auch Robert und Manfred packen es nicht. Nur Klaus startet Versuch um Versuch - und schafft schließlich das Manöver! Wir winken ab. Bert und Klaus verschwinden im Wald. Die Nieten schwimmen zurück und wärmen sich in der Nähe des Einstiegs unter herabsprudelndem Thermalquellwasser.     nach oben

Den Abend

verbringe ich im Sissero-Hotel. Ich nehme wieder mein Sparta-Dinner: Trocknes Brot und ein Kännchen vom Fünf-Dollar-Tee. Dann versuche ich mit dem elektrischen Haartrockner von Klaus den Kunstharzkleber der Kamerafrontscheibe aufzuweichen. Ich föne eine halbe Stunde. Nichts passiert. Klaus erscheint mit einem frontscheibendickem Holzscheit. Er umwickelt es mit einem Handtuch. Ich barme ein bisschen, verabschiede mich von der Scheibe und schaue weg. Es knallt. - Die Frontscheibe ist raus und unbeschädigt! Es ist mein einziges Ersatzglas. Robert gießt es mit dem letzten Kleber geschickt und sachgerecht ein. Und durch diese Scheibe fotografiere ich dann, bis zum Ruhestand des Kameragehäuses, noch weitere 15 Jahre!

Später sitzen wir am Pool und schwatzen. Vor dem Hotel ankert jetzt die Italique, das Schiff für die kommende Segeltour. Das Boot ist 14 Meter lang und hat schon etliche Jahre auf den Spanten. Es besitzt zwei Masten, drei Gästekabinen und jede Menge Rotweinflaschen. Der Skipper kommt nämlich aus Frankreich. Pierre ist in Paris aufgewachsen, wenn auch Schweizer Nationalität. Die Heimat seiner Freundin Mary ist Kanada. Sie beherrscht Pierre und die Kochnische. Ich erlebe Mary fast nur kochend, rauchend und schlafend. Pierre kaufte das Boot Freunden ab und verchartert es nun an Tauchtouristen, um Geld für die letzten Raten und eine geplante Weltreise zusammenzusparen.     nach oben

Ich schaffe mein Gerödel an Bord

und penne gleich in der für mich vorgesehenen Koje. Schaukelt es vom Rum oder von den Wellen? Meine erste Nacht auf dem karibischen Meer! Montag, 17. November: Heute soll es zunächst nach Martinique gehen. Ich bedanke und verabschiede mich von all den hilfsbereiten Leuten, besonders vom UNO-Klaus und dem Hotelmanager. Verschiedene Umstände verzögern das Auslaufen. Es wird fast Mittag, ehe die Jacht ihren Bug auf See richtet. Wir segeln an der Küste Dominicas entlang, passieren den Felsen von Scott’s Head. Kaum merklich schwindet die Insel im Achterwasser. So eine Jacht ist eigentlich recht langsam. Wir segeln Stunde um Stunde. Immer noch erscheint die verlassene Insel gleich nah und die anzusteuernde gleich weit entfernt. Fast alle Inseln trennt eine Distanz von 30 bis 50 Kilometer.

Was ist das? Zuerst denke ich, es sind Schwalben, die da über das Wasser schweben. Schwalben? Dann wird mir klar: Es sind die mir aus jeder exotischen Schilderung vertrauten Fliegenden Fische, die da auf ihren großen Brustflossen viele Meter über das Meer zischen. So also sehen die Beschreibungen in Natura aus! Der Seegang wird gröber. Glücklicherweise brauche ich weder Tabletten noch die Bordwand. Wir segeln den ganzen Tag. Als in einer Bucht von Martinique endlich der Anker fällt, dunkelt es bereits. Der Skipper teilt die zurückgelegten 40 Kilometer durch sieben Stunden und ist angesichts der Wetterverhältnisse zufrieden. Wir sind es auch, haben aber ganz andere Gründe: Das Boot liegt jetzt so schön ruhig...     nach oben

Am nächsten Morgen

bringt der Tauchguide Klaus und Erhard zum Flughafen. Er wird dort gleich auf die beiden „Neuen“ aus Deutschland warten. Gegen Mittag kommen die „Neuen“: Renate (Laborantin) und Kurt (Elektroingenieur), genannt Kulle, aus Stuttgart. Alles in allem sind wir ein illusteres Völkchen: Pierre und Mary, schon vorgestellt. Dann der Tauchlehrer Bert. Er hat die Tauchbasis im Sissero-Hotel einem englischen Ehepaar abgekauft, dass nach einem Hurrikan fluchtartig die Insel verließ. Bert ist gelernter Zahntechniker und beheimatet in Darmstadt. Schließlich wäre da noch Roswitha und Robert. Jedes Jahr im November sperren die beiden das von den Eltern geerbte Schwarzwaldhotel ab und reisen in irgendeinen anderen Erdteil. Und schließlich noch ich, Sachbuchautor aus Berlin und auf der Jagd nach Unterwasserfotos für neue Publikationen. Also eine sehr gemischte Truppe. Wir einigen uns auf Englisch als Hauptsprache. Später gibt es den in südlichen Ländern üblichen reichhaltigen Nachtimbiss, sprich ein spätes Abendessen. Schließlich ein Schlummertrunk und ab in die Koje.

Dienstag, 18. November. Nach dem spärlichen Frühstück, wie es bei den Franzosen meist üblich ist, geht die Reise weiter nach Saint Lucia. Im Nachhinein fällt mir auf, wie rasch Unzufriedenheit entsteht. Beispielsweise das Wort „spärlich“. Vorgestern hätte ich es noch als fürstliches Frühstück empfunden. Liegt so etwas in dem genetischen Programm von uns Menschen oder ist das nur ein Lapsus von mir?     nach oben

Saint Lucia

ist mit Großbritannien assoziiert. Es hat eine Fläche wie ungefähr jener Berlins, ist etwas kleiner als Dominica, aber mit über 150 000 Einwohner dichter besiedelt. Saint Lucia besteht aus vulkanischem Gestein. Der Mount Cimie erhebt sich bis in 914 Meter Höhe. Ein Drittel der Insel bedeckt Regenwald. Wie auf den meisten Inseln der Kleinen Antillen lebt man auch hier so recht und schlecht vor allem von dem Anbau von Agrarprodukten. Auf Saint Lucia sind es besonders die Bananen. Ein gewisser Strukturwandel begann jedoch mit dem seit Jahren stetig wachsenden Tourismus. Wir erfahren von Saint Lucia nur so viel, wie in simplen Nachschlagewerken steht und sehen nicht mehr als die Inselsilhouette.

Die „Neuen“ kämpfen noch ein wenig mit der Zeitverschiebung und wollen sich erst etwas akklimatisieren. Also fährt Pierre mit Robert und mir alleine zum Tauchen in die Marigot Bay. Wir laden die Plünnen ins Schlauchboot. Zusätzlich: Robert seine Filmkamera, Pierre eine Harpune und ich mein leeres UW-Kameragehäuse.

Es ist ein ungünstiger Tauchplatz: trübes Wasser, wenige Korallen, geringe Tiefen. Schon nach wenigen Minuten verlieren wir uns aus den Augen. Ich spüre ein wenig unschlüssig herum, tauche auf. Keiner zu sehen, wieder hinab. Ich verbummele die Zeit allein am Grund. Als ich endlich wieder auftauche, schaukeln Pierre und Robert schon im Schlauchboot. Ich kriege Mecker wegen des Alleintauchgangs. Ich sehe ein, Pierre trägt immerhin die Verantwortung. Käme beispielsweise ein Taucher abhanden, so würde ihm als Neuling im Chartergeschäft kaum noch eine Gesellschaft Tauchgäste anvertrauen!

Wie gesagt: Ein schlechter Tauchgang und doch bot er einen Lichtblick: Mein Kameragehäuse blieb trocken. Die Logbuchdaten: maximal 15 Meter Tiefe, 55 Minuten Tauchzeit. Nach dem Abendessen wird wieder geklönt, bis wir von den Sitzen kippen.

Aber kaum sind die Augen zu, weckt uns Mary mit klappernden Töpfen und pfeifendem Kessel: freilich ein angenehmes Weckgeläut! Mittwoch, 19. November. Meine „große“, was ja meint: „meine ältere“ Schwester, hat heute Geburtstag. Bemerke ich später beim Schreiben. Aber auf der Italique nicht ein Gedanken an zu Hause. Ein Hauch Toilette, ein großer Topf Kaffee und schon startet Pierre den Diesel. Zwei Mann kämpfen mit dem Anker. Das Schlauchboot bleibt gleich außenbords. Wir verlassen den Hafen von Saint Lucia.  Pierre steuert in die Bucht mit den „Deux Pitons“, zwei zuckerhutförmigen Felsen, die wie Wachsoldaten links und rechts der Einfahrt strammstehen.     nach oben

Der Abstieg am Eingang

der Bucht wird einer der schönsten der ganzen Reise und nur noch vom Besuch der Pyrena übertroffen. Wir hieven uns in die Tauchanzüge und fahren mit dem Schlauchboot zum Ausgang der Bucht. Der Klappanker. Ein kurzes Gerangel um die richtigen Flossen und Flaschen. Fünf Mann sind eigentlich zu viel für das kleine Schlauchboot. Einer nach dem anderen verschwindet rücklings. Ich bin der vorletzte. Mit der Kamera in der Hand falle ich in eine Wunderwelt.

Die strandlose Steilküste setzt sich in gemäßigtem Abfall in die Tiefe fort. Fels- und Korallenblöcke bedecken in bizarrer Verschachtelung den rasch sich senkenden Grund. Das Wasser ist fantastisch klar. Ich habe das Gefühl, als ob ich neben einem Steilhang von der Höhe eines mehrstöckigen Hauses frei im Raum schwebe und in ein mit tiefblauem Licht gefülltes, verwunschenes Tal hinabblicke. Ich lasse mich ein paar Meter absinken und warte auf Robert, der noch mit seiner Filmkamera kämpft. Ich stelle das 50-mm-Weitwinkelobjektiv auf die mit 0,5 Meter kürzeste Entfernung ein und richte das Elektronenblitzgerät aus. Die im Zentrum des Blitzreflektors eingebaute 20-W-Pilotlampe erlaubt ein müheloses Justieren. Ich fotografiere probehalber den Fuß einer Gorgonie. Der Blitz leuchtet auf. Alles klar. Ich schaue mich neugierig um.

Etwa zwei Meter weiter steht ein Trompetenfisch, ein etwa 50 Zentimeter langes Tier mit leuchtend blauer Schnauze. Es schwebt vertikal zwischen Gorgonienästen und versucht sogar, deren Krümmung nachzuahmen. Der Kopf ist nicht, wie meist beobachtet nach unten, sondern nach oben gerichtet. Der Trompetenfisch bewegt sich kaum. Käme ein ahnungsloses kleines Fischchen vorbei, führte er es sich mit einem mächtigen Schlürf zu Leibe. Ich bin zu groß und erscheine ihm wohl auch wenig vertrauenswürdig. Als ich mit der Kamera zu nahe komme, verdrückt er sich. Durch die lange dünne Gestalt ist das Tier auf quadratischen Bildformat schlecht zu fotografieren. Ich bekomme es nur halb und trotzdem mit immer noch viel zu viel Biotop auf den Film. Hans Hass konnte bereits Ende der 30er Jahre mit Fotos aus dem niederländischen Teil der Kleinen Antillen eine andere List des Trompetenfischs dokumentieren. Das Tier schwamm ganz dicht über einem anderen harmlosen Fisch mit, einen sich nur von Korallenpolypen ernährenden Papageifisch, um so unauffällig in die Nähe seiner Beutetiere zu gelangen. Robert segelt herab und zeigt das Alles-okay-Zeichen. Wir schwimmen langsam tiefer.     nach oben

Der Reiz eines intakten Riffs

beruht vor allem auf der Vielfalt der dort lebenden Bewohner und die für uns ungewohnten optischen Strukturen, also Formen und Farben. Die Baumeister eines Riffs sind in erster Linie die oft nur wenige Millimeter großen Steinkorallenpolypen. Jeder Polyp ist ein sehr einfach organisiertes schlauchartiges Tier. Es besitzt an einem Ende eine Fußplatte, am anderen eine Mundscheibe. Die Mundscheibe säumt ein Kranz zarter, mit Nesselzellen besetzter Tentakel zum Fang winzigster Nahrungsteilchen. An dem blinden Ende scheidet der Polyp Kalk aus und bildet damit eine Basisplatte mit einer ringförmigen Verdickung am Außenrand. Sechs radiär abgesonderte Kalkstreifen und die sie umhüllende Basisplatte wachsen in die Höhe. Ab einer bestimmten Größe beginnt der Polyp mit der Ausbildung einer neuen Basisplatte. So entstehen immer neue Etagen, dann Stöcke und schließlich - im Laufe von Jahrtausenden - mächtige Riffe.

Ein Korallenstock wächst je nach Art und Umweltbedingungen zwischen einem und 25 Zentimeter im Jahr. Die riffbildenden Korallenpolypen sind recht anspruchsvoll: Das Wasser muss eine Temperatur von mindestens 20 Grad Celsius haben, sauber und von Licht durchflutet sein. Im Körper der Polypen leben nämlich in Symbiose auch Algen, also einfachste Pflanzen. Diese verarbeiten mit Hilfe des Sonnenlichts - der bekannten Fotosynthese - die „Abfälle“ der Korallenpolypen (Kohlendioxyd und Stickstoffprodukte) und liefern als Gegenleistung Sauerstoff. Deshalb wachsen die riffbildenden Korallen nur in geringen Tiefen bis etwa 20 Meter, denn nur hier ist es für die Algen hell genug Andere Korallen kommen ohne Algen aus. Sie sind daher auch noch in Tiefen bis zu 50 Meter zu finden und manchmal gar noch weiter unten.

Die Schönheit eines Korallenriffs ist schon so oft gepriesen worden, dass man davon kaum noch lesen oder hören mag. Dennoch: Schwebt man als Laie oder wenn nicht Laie, so doch als Neuling wie ich (man erinnere sich: wenigstens einmal im Leben ein Korallenriff sehen!) über reichbewachsene Hänge, so geht es gar nicht anders als ebenfalls in höchsten Tönen zu schwärmen.

Systematiker unterscheiden bei der Klasse der Blumentiere zwischen sechsstrahligen Korallen mit den Ordnungen Seerosen, Steinkorallen, Dörnchenkorallen und Krustenanemonen, den achtstrahligen Korallen mit den Ordnungen Lederkorallen, Horn- oder Rindenkorallen, Blaue Korallen und Seefedern. Die riffbildenden Korallen leben, wie gesagt, bis etwa 20 Meter Tiefe. Andere Korallen sind genügsamer und leben deshalb auch noch bis in 50 Meter Tiefe. Manche sind gar in noch größeren Tiefen zu finden. Jenseits dieser Grenze bedecken nur noch tote Reste und Korallenschutt die Gründe. Andere Tiere als Korallen sind nun die Herrscher dieser Reiche.     nach oben

Wir streifen staunend

durch die Welt der Korallen. Robert filmt, ich fotografiere. Noch befinde ich mich in der Phase des fast wahllosen Sammlers, der alles ablichtet, was fotogen aussieht und leidlich still hält: Korallen, Schwämme, wirbellose Tiere und verschiedene Fischarten. Es gilt zunächst einen Grundstock an Bildern aus dieser für mich neuen Welt aufzubauen. Wer weiß, was noch kommt oder ob ich noch einmal dazu komme. Beispielsweise ein einwöchiger Sturm bedeutete das Ende aller Tauch- und Fotopläne. Und wäre ich erst einmal wieder daheim, ob ich je diese Welt wiedersehen dürfte?

Ein herrlicher Tauchgang! Erstmals habe ich einen Film mit 24 Aufnahmen eingelegt. Er ist zwar wesentlich teurer als zwei 12er, aber eigentlich: was sind schon die Filmkosten gegenüber dem Preis der gesamten Reise oder gar dem Wert des vielleicht einmaligen Erlebnisses. Die Bleistiftstriche auf dem Gehäuse, mit dem jede Aufnahme registriert wird, nehmen beängstigend zu.  Die Pilotlampe lässt für Sekunden rote, orange und gelbe Farben aufleuchten. Freilich ist das Farbvergnügen nur von kurzer Dauer. Der hohe Lampenstrom reduziert die mit einer Ladung mögliche Zahl von 300 Blitzen bei voller Leistung drastisch. Das Bordnetz hat aber statt der avisierten 220 V nur die auf Jachten übliche Spannung von 12 V und das dafür notwendige spezielle Ladegerät liegt leider zu Hause.

Besonders auffällig sind die Soldatenfische, nicht schüchtern und durch ihre tiefrote Färbung auch sehr fotogen. Sie leben gerne verborgen in Spalten und unter Korallenästen. Andere Namen dieser Familie sind Stachelfische, weil die vordere Hälfte der Rückenflosse durch 10 bis 12 starke Stachelstrahlen gespannt wird und Eichhörnchenfische wegen ihrer großen auffälligen Augen. Als wir auftauchen, verschwindet gerade ein Adlerrochen in der Ferne. „Sicht 18 Meter, Wassertemperatur 26 Grad Celsius, Tiefe 25 Meter, Tauchzeit 60 Minuten“, heißt es in meinem Taucherlogbuch.     nach oben

Die Italique

verlässt am frühen Nachmittag Saint Lucia und nimmt Kurs auf St. Bequia. Als wir am Abend in die Admiralty Bay einlaufen und auf der Reede vor Anker gehen, dämmert es bereits. Wir essen zu Abend und fahren mit dem Schlauchboot an Land. Das Beeindruckendste dieser Stippvisite ist eine Art Gottesdienst oder Gemeindestunde unter freiem Himmel. Die Menschen lagern am Strand im Kreis um eine Flüssiggaslampe. Hinter ihnen stehen viele Zuschauer, insgesamt vielleicht 150 bis 200 Personen. Einer aus dem Kreis springt in die Mitte und stellt, halb sprechend und halb singend, Behauptungen auf zu dem löblichen Wirken des Herrn. Oh yes, bekräftigt der Chor der Sitzenden. Dann singen alle. Ein neuer Sprecher tritt in die Mitte. Glotzt nicht so romantisch, forderte Brecht. Aber da umgab ihn auch nicht die Exotik einer milden Tropennacht, die Silhouetten von Palmen vor ungewohntem Sternenmustern und ein Chor dunkler fremder Stimmen. Oh yes . . .

Donnerstag, 20. November. Wir verbummeln noch den folgenden Vormittag im Hafen von Bequia, ehe die Jacht ihren Bug erneut auf See richtet. Einige Notizen: Gesegelt bis Cannouan. Unterwegs Delphine gesehen, meine ersten Delphine im freien Wasser! Gegen 15 Uhr getaucht. 85 Minuten. Den ersten Barakuda gesehen, ein etwa 75 Zentimeter langes Tier.

Freitag, 21. November. Die Italique ankert zwischen den Inselchen der Tobago Cayes. Der erste Tauchgang muss wegen zu flachem Wassers (nur 2 Meter!) und zu starkem Wellengang abgebrochen werden. Fotografieren unmöglich. Wir fahren mit dem Schlauchboot zu einer anderen Stelle und gleiten hier entlang einem mit Hirschhorn- und Elchgeweihkorallen und anderen Acrophoraarten gespicktem Abhang hinab bis in 27 Meter Tiefe. Etwa ein Viertel aller lebenden riffbildenden Korallen gehört zu den Acrophora, den baumförmigen Korallen. In der Karibik haben sich diese meist stark verästelten Korallen besonders häufig auszubreiten vermocht. Die Stöcke sind sehr porös und recht schnellwüchsig. Manche Arten erreichen bereits binnen eines Jahrzehnts mit 1,0 bis 2,5 Meter Höhe ihre größte Ausdehnung, andere wachsen jedes Jahr nur einen Zentimeter.     nach oben

Erstmals sehe ich mir

die verschiedenen Horn- und Rindenkorallenarten genauer an.  Sie werden auch als Gorgonien bezeichnet. Diese Blumentierkolonien besitzen im Stockinneren ein Achsenskelett aus biegsamen, hornartigen Fasern mit Kalkeinlagerungen. Das Achsenskelett umhüllt eine mit Kalkteilchen durchsetzte weiche Rinde. In der Rinde sind die Korallenpolypen eingebettet. Die Fächer der Gorgonien stehen wie Siebe quer zur Richtung häufigster Wasserbewegung. So können die Polypen den größten Anteil aus dem mit der Strömung vorbeitreibenden Plankton abfischen. Apropos Strömung, an manchen Ecken „zieht es“ hier merklich, aber wir haben die Wasserbewegung im Griff.

Mir fällt auf: Zu den häufigsten Korallenrifffischen gehören die verschiedenen Schnapperarten, die wunderschönen Engelsfische und die allenorts mit gut hörbarem schrap, schrap, Korallenblöcke abnagenden Papageienfische. Vertreter aus der Familie der Korallenbarsche sind in allen warmen Meeren zu finden. Man kennt ungefähr 15 Gattungen mit rund 200 Arten. Zu ihnen gehören die Chromis genauso wie die in der Karibik merkwürdigerweise nicht vorkommenden Anemonenfische. Korallenbarsche sind relativ schmal und hochrückig. Nanu, was rammt da gegen meinen Körper? Ich zucke zusammen. Ein höchstens zehn Zentimeter langer schwarzer Korallenbarsch schwimmt erbitterte Angriffe, um mich aus seinem Revier zu verjagen. Das passiert mir nicht zum ersten Mal. Die Korallenbarsche sind bekannt für ihre Unerschrockenheit und Aggressivität, mit der sie selbst Wale in die Flucht zu schlagen versuchten.

Robert erinnert mich, dass es Zeit ist für den Aufstieg. Wir schwimmen höher. In wenigen Metern Tiefe entdecke ich eine kleine Gefleckte Muräne. Diese Art wird kaum länger als einen Meter. Sie bevorzugt Fels- und Korallenverstecke in seichterem Wasser. Ihr gilt mein letztes Bild. Später werde ich feststellen, dass es als Bild 13 oder 14 schon gar nicht mehr auf dem Film ist, denn der hat nur Platz für 12 Fotos. Normalerweise blockiert die Pentaconsix den Filmtransport nach 12 Aufnahmen. Ich habe aber die automatische Sperre ausgebaut, um unter Wasser gelegentlich auch einen der teueren Filme für 24 Bilder verwenden zu können. Dann stoßen wir auf Bert und Kulle. Bert hat sich vom Jagdfieber hinreißen lassen und eine kleine Languste harpuniert. Sie wird mir als einzigem, der noch nie Languste aß, heute Abend serviert werden.     nach oben

Die restliche Luft

veratmen wir alle einträchtig in 3 Meter Wassertiefe. Ein Wettstreit um den geringsten Luftverbrauch entbrennt. Wir harren aus, bis die Flaschen so leer sind, dass sie beim Luftaussaugen eigentlich kollabieren  müssten. Einer nach dem anderen entschwindet hoch zu dem Schlauchboot. Ein wenig stolz - aber worauf eigentlich - verabschiede ich mich als letzter aus der blauschimmernden Welt. Tiefe 27 Meter, Tauchzeit 60 Minuten. Pierre wartet mit klappernden Zähnen. Er ist der einzige ohne Tauchanzug. Pierre hat nur T-Shirt und Trainingshosen übergestreift als Schutz gegen scharfkantige Korallenoberflächen und nesselnde Meerestiere.

Die in tropischen Meeren verblüffende Artenvielfalt ist nicht etwa die Folge eines überreichen Nahrungsangebotes, sondern die einer Mangelerscheinung. Vereinfacht ausgedrückt: Je wärmer das Wasser ist, desto weniger Sauerstoff kann sich in ihm lösen. Der Sauerstoffanteil ist aber mit entscheidend für das Planktonvorkommen eines Gewässers. Das Plankton wiederum steht in vorderster Front von Nahrungsketten und ist so mit verantwortlich für das Nahrungsangebot. Die kalten arktischen Meere enthalten viel Sauerstoff, viel Plankton und bieten so auch vielen Tieren Nahrung. Begünstigend wirkt noch die leichter mögliche vertikale Wasserzirkulation. Das hier besser als in wärmeren Meeren aufquellende Tiefenwasser befördert zahlreiche Nährstoffe an die Oberfläche. Dadurch können sich ungeheure Mengen von Lebewesen entwickeln, allerdings nur von relativ wenigen Arten. Warum auch soll die Natur variieren, wenn auch so schon genug das ist zum Fressen! Alle großen Fischfanggebiete beispielsweise befinden sich in den kalten Meeren.

In den nährstoffarmen warmen Gewässern musste die Natur aber so viele verschiedenen spezialisierte Bewohner hervorbringen, um fast jede (Nahrungs-) Nische ausnutzen zu können. Die einen nagen mit ihrem scharfen Gebiss Korallen ab, die anderen stochern mit pinzettähnlichen Schnauzen in Felsspalten herum und noch andere fressen wieder diese Fische. Aber fast immer gibt es nicht so viel, als dass sie beispielsweise großen Raubfischschwärmen eine Existenzgrundlage böten.

Da wir gerade vom Fressen reden: Mary erwartet uns nach dem Tauchgang auch mit solchem, nämlich mit einem „Waschtopf“ randvoll mit Suppe. Wir stürzen uns, wie ausgehungerte Wölfe auf  zarte Lämmer, auf die Grünen Bohnen. Nicht ein mickeriges Böhnchen überlebt.     nach oben

 

Am Nachmittag trübt

erstmals schlechtes Wetter das karibische Ambiente. Aber unser Liegeplatz ist ringsum durch kleine Inselchen gut geschützt. Am Sonnabend, den 22. November, segeln wir in Himmelherrgottsfrühe, also etwa um 9 Uhr, ab zu den Union Islands. Die Fahrt dauerte rund zwei Stunden. Mit dem Schlauchboot geht es zur Riffkante hinaus. Erster Tauchgang bis in 17 Meter Tiefe, 90 Minuten. Barakuda. Fischschwärme verschiedener Arten, die jedoch gemeinsam Korallen abweideten.

Zweiter Tauchgang bis in 13 Meter Tiefe, 45 Minuten. Die Sicht unter Wasser verschlechtert sich rapide. Der Tauchguide bricht den Tauchgang ab. Aber auch Besorgnis angesichts einer sich ankündigenden Wetterverschlechterung beeinflusst diese Entscheidung. Mich stört es nicht sonderlich. Das kleine Reserveblitzgerät wurde nämlich undicht und setzt aus. Und ohne die Chance zu Fotos ist ein Tauchgang nun schon nicht mehr so beeindruckend.

Abends Landgang. Wir dinieren im Anchorage Jachtklub der Union Islands. Ich verkneife tapfer alle Fressgelüste, verzichte auf Vorspeise und Eisbecher, um meine Rechnung möglichst niedrig zu halten. Nicht nur Schottenmentalität, auch mein Mangel an Devisen. Kulle spendiert meinen Anteil von 42 E.C.-$, obwohl ich höchsten für 22 E.C.-$ gegessen habe. Es ist meine erste Erfahrung mit dem Essen in geselliger Runde im westlichen Ausland. Es scheint allgemein üblich zu sein, dass am Ende stets nur eine Rechnung gestellt wird. Und diese Summe teilt man durch die Anzahl der Schlemmer. Merke: Verzicht und Sparen bringt nichts. Es mindert die Rechnung nur um Bruchteile!

Sonntag, 23. November. Nach einer anderthalbstündigen Fahrt erreichen wir die Ile de Mayero. Wir befinden uns nun bereits in den Grenadinen und zugleich am südlichsten Ort unserer Reise.     nach oben

Die Grenadinen

sind eine Gruppe von rund 130 Inseln, die zu Grenada und Saint Vincent gehören und einst britisch besetzt waren. Sie erklärten 1974 ihre Unabhängigkeit. Eine Klage nebenbei: Wir sehen leider nicht viel von den Inseln, denn unser stetes Tagewerk ist, na ja, hart: frühstücken - tauchen - zur nächsten Insel segeln - frühstücken - tauchen - zur nächsten Insel segeln und so weiter immer weiter.

Bei der Ile de Mayero fährt Pierre uns mit dem Schlauchboot hinaus zu einem in 15 Meter Tiefe liegendem Wrack. Wir fahren 5 oder auch 10 Minuten. Auf See geht leicht das Zeitgefühl verloren. „The anchor is ready?“, fragt Pierre. „Of course“, antworte ich und wickle meine Kamera und Kulles Beine aus dem Tauwerk. Pierre dreht noch eine Runde, nimmt plötzlich das Gas weg und ruft: „Anchor away!“ Ich lasse den Anker über Bord gleiten. Das Meer schimmert wie überall. Keine Bojen noch nähere Landmarken. Pierre bemerkt unsere skeptischen Blicke. „Okay“, sagt er, „look down“. Alle setzen die Masken auf und spähen über die Bootswulst. Uns stockt der Atem.

Da unten! Eine große, graue längliche Masse - das Wrack. Sein Ende verliert sich außerhalb der Sichtweite im Dämmer. Mit den Resten von Aufbauten, allerlei Verstrebungen, Trägern und Spanten erinnert es an ein vorsintflutliches Monster mit aufgerissenem Brustkorb. In mir breitet sich ein banges Gefühl aus, auch Angst vielleicht. Doch wie in einem raffinierten Gruselfilm, bei dem man sich fürchtet hinzuschauen, aber auch nicht wegzusehen vermag, lockt das stählerne Ungetüm: Kommt hinab!

Sanft dümpelt das Schlauchboot auf dem tiefblauen Wasser. Wir nehmen die Köpfe wieder aus dem Wasser. Hinter tropfenden Tauchermasken glänzen große Augen. Rasch machen wir uns tauchklar. Niemand denkt mehr an irgendwelche Absprachen oder bestimmte Kontrollen vor dem Abstieg. Alle sind viel zu aufgeregt. Ich hänge die Kamera über Bord.     nach oben

„Attention please, I go down!“

Mit dem Tauchergerät in der Hand plumpse ich rücklings in die See. Bei Tauchgängen von Schlauchbooten aus pflege ich das Gerät erst im Wasser anzulegen. Das ist einfacher als in dem schwankenden und meist überfüllten Fahrzeug.

Noch ehe ich wieder in der richtigen Schwimmlage bin, trennen mich bereits mehrere Meter von dem Boot. Ich schlage mit den Flossen, ohne dass die Entfernung abnimmt. Donnerwetter. Plötzlich wird mir klar, was da vor sich geht: Strömung! Mir schießt sofort die letzte Story einer Tauchzeitschrift durch den Kopf. Da war eine Taucherin auch ahnungslos in eine starke Strömung geraten. Sie trieb sofort ab. Als das Boot zur Bergung in Gang kam, war es schon zu spät.  Ein aus dem Meer ragender Kopf ist nur wenige 100 Meter weit zu sehen. Erst nach 18 Stunden erreichte die junge Frau wieder festen Boden unter den Füßen, 40 Kilometer südlich der Einstiegsstelle . . .  Ich biete alle Kräfte auf, rudere mit der freien Hand. Nur mühsam erreiche ich wieder die rettende Gummiinsel - unter dem Arm immer noch die Pressluftflasche. Bis auf Pierre hängen nun alle Taucher an der umlaufenden Handleine. Ich hangele zum Bug, winde die Beine um das Ankerseil und schlüpfe endlich in die Gurte des Tauchgerätes. Ein Taucher nach dem anderen verlässt nun das Schlauchboot. Bert und Kulle stoßen als erste entlang der Ankerleine in die Tiefe. Ich folge mit Robert. Pierre hat sich schon wieder mit der Harpune abgesetzt, um nach Fische zu jagen. Angeblich äßen wir zu viel.

Das ehemalige Deck des Wracks liegt etwa zehn Meter unter der Oberfläche, der Grund noch einmal fünf Meter tiefer. Ein Wrack ist praktisch ein totes Schiff. Es strahlt gleich einem Friedhof eine beklemmende Atmosphäre aus; doch schwindet sie mit der Annäherung. Das Auge verliert sich zunehmend in Details, so wie etwa das düstere Spukschloss aus wenigen Metern Entfernung auch nur noch aus simpel übereinandergeschichteten Steinquadern besteht.     nach oben

Von Decksplanken

freilich keine Spur. Schon bald nach dem Untergang der Pyrena machten sich Schiffsbohrwürmer ans Werk: findige, unersättliche Feinde allen Holzes in warmen Meeren. Sie verzehren selbst kostspieligste Schutzanstriche mit kaum gezügelten Appetit. In erstaunlichem Tempo verschwindet das Holz hinter ihren scharfen Fresswerkzeugen. Die Bezeichnung Bohrwürmer ist eigentlich falsch. Diese Tiere gehören zu den Bohrmuscheln, einer Gruppe von marinen Muschelgattungen. Auch der in Europa gefürchtete Schiffsbohrwurm Teredo navalis ist besonders berüchtigt und verursacht Schäden in Millionenhöhe. Der Teredo ist ein bis zu 20 Zentimeter langes, wurmförmiges Tier. Sein Vorderende umschließt eine Raspelschale, mit der es sich rotierend ins Holz gräbt. Die Zellulose der dabei anfallenden Späne ist sein tägliches Brot. Verschiedene andere Organismen, die Aggressivität des Salzwassers und die mechanischen Kräfte des Meeres bewirken ein Übriges. In wenigen Jahren bröseln die Planken auseinander. Manche Teile werden von der Strömung fortgeschwemmt. Andere finden im Schlamm oder unter Sedimenten ihre letzte Ruhestätte.

Mühelos tauchen wir nun mittschiffs, einen Schwarm Grunzer aufspaltend, in das Bootsinnere wie in eine aufrecht am Grund liegende überdimensionale Badewanne. Im Stromschatten hinter den Bordwänden ist das Wasser still. Ich lasse mich auf den Boden sinken und schaue neugierig in die Runde. Es ist nicht zu fassen. Es ist irre! Leben zwischen den Schiffsteilen, wohin das Auge blickt: krustenartiger vielfarbiger Bewuchs, Schwämme, Seescheiden, Weichkorallen, Fische . . .

Wenn ein Schiff in tropischen Gewässern auf den Meeresgrund sinkt, hat es noch lange nicht Ruhe. Einige Jahre sieht es vielleicht aus wie Wracks in alten Hollywoodstreifen. Doch dann verschwinden die Holzteile. Korrosion zerstört manches Metall. Am verblüffendsten ist aber die rasche Besitzergreifung durch marine Organismen - sofern das Wrack noch in hellen, lichtdurchfluteten Arealen liegt. Algen überziehen die Wände. Kleinkrebse, Larven von Muscheln, Schwämme und Korallen - mit der Strömung verfrachtet - setzen sich auf geeigneten Untergründen fest. Die ersten Tiere, Kolonien, Stöcke wachsen heran. Längst schon zogen Fische in das Nahrung und Schutz gewährende Gebilde. Binnen weniger Jahrzehnte wimmelt es hier von Tieren: ein neues lebendes Riff, Nur die unter dem farbigen Flor sich abzeichnenden geometrischen Strukturen verraten das einstige technische Menschenwerk. Aber auch die regelmäßigsten Konturen schwinden unablässig. Je nach Seegebiet, Untergrund, Schiffstyp, Havarieumfang, Wassertiefe und einigen anderen Faktoren dauert es allerdings oft schon ein Jahrhundert (bei eisernen Schiffen noch länger), ehe das Boot auseinander bricht und von Schlamm, Sedimenten und Organismen ebenso wie der Meeresgrund völlig überdeckt ist. Das ehemalige Frachtschiff  Pyrena sank aber erst 1902, die einzig ermittelte Zahl zu diesem Wrack, also vor rund achtzig Jahren. Noch stehen die eisernen Spanten, Bordwände, Querträger, ist das Gerippe der Kajüte aufgerichtet wie eine gespannte überdimensionale Falle. Wir fürchten sie nicht. Uns erscheint das Wrack stabil genug für weitere Jahrzehnte.     nach oben

Die Tauchergruppe

zerfällt. Wir verteilen uns gleich stöbernden Jagdhunden über das ganze Schiff. Noch nie sah ich so viele verschiedene Fischarten auf so engem Raum. Auch die Fluchtdistanz erscheint wesentlich geringer. So kommt im ersten Fotorausch zunächst jeder Fisch ins optische Visier, der leidlich stillhält. Schließlich gilt à la moderner Version des Goethe’schen Schülers: Nur was man auf fotografischen Emulsionen besitzt, lässt sich getrost nach Hause tragen. Freilich gibt es da noch Unbekannte: die Fototechnik und die Qualität der Filme!

Erstes Opfer ist ein durch seine großen Augen und die blutrote Färbung auffallendes Glasauge (Priacanthus cruentatus), ein Vertreter aus der Familie der Großaugen (Priacanthidae). Die schönen Glasaugen sind nachtaktive Tiere, die sich jetzt unter Überhängen zu verstecken suchen. Sie können ihr Farbkleid binnen Sekunden von tiefem Rot zu hellem silbrigen Rosa wechseln. Dann wende ich mich einem Grouper zu, wie die Amerikaner die großen Zackenbarsche (vornehmlich Epinephelus und verwandte Gattungen) nennen. Wieder schalte ich das Pilotlicht ein. Die im Blitzreflektor eingebaute 20-W-Lampe leuchtet auf. Unten im Wrack ist es zu dämmerig, um auf der Suchermattscheibe Schärfe und Bildaufbau ausreichend beurteilen zu können. Der Epinephelus guttatus verharrt fast reglos im Lichtkegel dicht über dem gelbolivfarbenen Grund. Ein weißgepunkteter Meeraal schlängelt sich an den Grouper heran. In der ersten Aufregung halte ich das Tier für eine Seeschlange. Aber Schlangen mit einer Rückenflosse? Nur rasch tiefer. Die Vogelperspektive ist ungünstig für Fischporträts. Der Meeraal ist flink. Ich löse aus, erkenne aber noch vor dem Hochklappen des Kameraspiegels: Es wird ein kopfloses Foto! An der Bordwand gelingt der Schnappschuss eines Schwarms von Grunzern. Ich halte inne. Wenn das so weiter geht, ist der Film alle, noch ehe ich einmal längst durch das Schiff gekommen bin. Wo sind überhaupt die anderen?     nach oben

Ein mannshoher Aufbau,

oben rund und im unteren Teil mit löcherigen Reihen durchsetzt, den Flammrohren, kennzeichnet die ehemalige Feuerungsanlage und den Dampfkessel. Daneben ein Gewirr zusammengestürzter eiserner Streben, Rohre und Träger, als habe ein Riese allen Schrott zusammengerafft und just in diese Ecke geworfen. Durch den unansehnlichen Haufen flitzen handlange Zebrafische, Abudefdufs. Sie gehören zu den vielgestaltigen Korallenbarschen (Pomacentridae), einer in den meisten warmen Meeren lebenden Familie mit mindestens 15 Gattungen und 200 Arten. Wie die Glasaugen können die Zebrafische ihre Färbung variieren. Das Schuppenkleid freischwimmender Exemplare ist hellsilbrig und trägt fünf schwärzliche Querbinden. Ziehen sich die Tiere auf dunkle Untergründe zurück, vermögen sie eine grauschwarze Färbung anzunehmen, so als oxydierte das Silber.

Sicher fiele es auch dem Fachmann schwer, die ursprüngliche Bedeutung der oft bis zur Unkenntlichkeit verkrusteten Bauelemente und Ausrüstungen zu bestimmen. Ich schwimme längs der Bordwand über dem ehemaligen Oberdeck nach achtern. Das Schiff - schwer zu schätzen - misst in der Länge etwa 30 Meter. Es ist kaum noch vorstellbar, dass hier einst Menschen entlang liefen und arbeiteten. Aus allen erdenklichen Winkeln sprießen kleine Blumenarrangements, dehnen sich seltsame Rabatten in wunderlichsten Formen: verzweigte, vielästige Büsche, kugel- und säulenförmige Gebilde wie Kakteen, an Farnwedel erinnernde Fächer. Ein Foto von Kulle, der mir entgegen kommt.

Ich erreiche das Gerippe der Heckaufbauten. Tausende und aber Tausende von weißen Korallenpolypen überziehen in dichten Büscheln jede Strebe. Es ist, als gleite man durch eine überreich mit Blütengirlanden umwundene Pergola. Aus dem Boden sprüht plötzlich ein Schwall silbriger Perlen. Ein Kopf schiebt sich von unten in den Raum, der Körper folgt - Bert. Wir strahlen uns an und wechseln die Handzeichen für „Alles in Ordnung!“      nach oben

Auf der Backbordseite

befindet sich die Toilette. Sie ist bereits besetzt. Ein Schwarm gelbgestreifter Schmalmundgrunzer kreist um die Kloschüssel. Über mangelhafte Wasserspülung könnten Nutzer wirklich nicht klagen! Bert jagt die Grunzer aus dem „Häuschen“ und setzt sich auf das Becken. Ein Aha-Erlebnis. Deshalb also der blanke Rand. Garantiert ließen sich nur wenige Wrackbesucher die fotografisch-groteske Situation entgehen: Mit einem Tauchgerät auf’s Klo!

Ich lasse mich durch den „Boden“ der Heckaufbauten sinken und schwimme in Richtung Bug. In der Bordwand klaffen schartige Löcher. Robert lugt von draußen ins Schiff. Ich richte die Kamera auf ihn. Robert lässt den Atemregler aus dem Mund fallen und fletscht die Zähne. Okay, auch dafür ein Bild. Sein Standort bringt mich auf die Frage nach dem Äußeren des Wracks. Ich schwimme empor und gleite über die Reling. Die Strömung erscheint schwächer. Sie erfordert aber immer noch Beinarbeit gegen das Abtreiben. Das Wrack liegt mit ebenem Kiel auf dem wüstenartigen Sandgrund wie ein Spielzeugboot im Buddelkasten. Ich befinde mich etwa in der Mitte des Wracks. Die Schiffswände beeindrucken durch ihre riesigen Flächen. Bug und Heck liegen außerhalb der Sichtweite. Aus Furcht, mit der Strömung irgendwohin abzutreiben, bleibe ich dicht an der Bordwand. Und lauern da nicht schon jenseits des Sichtbaren Haie? Es gibt noch einen Grund: An der Scheide zwischen Schiff und Meeresboden stehen mehrere hübsche weißbraune Zackenbarsche. Eine vage Identifizierung. Auch in meinen Fischbüchern finde ich später nichts genaueres. Die Tiere haben die Köpfe gegen die Strömung gerichtet und halten mit kaum merklichen Flossenschlägen ihre Position. An mehreren Fischen haften einige längliche braune Parasiten. Sie sind etwa zwei Zentimeter groß und erinnern an „Asseln“. Ein Mitleid erregender Anblick. Aber die Natur ist gewöhnlich nicht heiter und mein Mitgefühl lediglich eine einseitige (und damit sehr subjektive) Betrachtungsweise, eben eine menschliche. Könnte ich nicht auch denken: Wie schön, dass die niedlichen „Asseln“ endlich einen Wirt gefunden haben und nicht länger hungern müssen?     nach oben

Der Strom

hat mich mit merklichem Griff gepackt. Ich höre auf, gegen seine sanfte Gewalt anzukämpfen. Wie auf einem langsamen Förderband drifte ich nach achtern und steige am Heck ab. Die Pyrena ist ein Zweischraubendampfer. Beide Propeller sitzen noch auf ihren Naben. Ich schwimme im Stromschatten des Hecks empor und segele wieder ins Schiff. Kamerakontrolle: Der Film erlaubt noch ein halbes Dutzend Aufnahmen.

An einem Rohr, dessen spärlicher Bewuchs keinen Zweifel an der technischen Herkunft lässt, stelle ich Braune Chromis (Chromis multilineatus), eine etwa 20 Zentimeter lange Korallenbarschart. Ein schwarzer Fleck an der Brustflossenwurzel, ein weißer Fleck am Ende der Rückenflosse und die wie bei den im Mittelmeerraum lebenden Mönchsfische (Chromis chromis) tief eingeschnittene Schwanzflosse sind auffallende Kennzeichen. Als ein Spanischer Schweinsfisch (Bodianus rufus) seinen Körper vorbeischleppt, wird auch er abgelichtet. Seine Bewegungsart ist typisch für Lippfische: Sie schwimmen labriform, d. h. nur durch gleichzeitiges Nachhintenschlagen der Brustflossen. Deshalb erscheinen auf den Fotos schwimmender Tiere die übrigen Flossen meist nach hinten angelegt. Charakteristisch für Lippfische sind auch die den Namen gebenden fleischigen Lippen und oft eine lebhafte, ja bunte Färbung. Der Spanische Schweinsfisch beispielsweise ist knallgelb und sein Rücken rot.     nach oben

Gegen Ende des Tauchgangs

treffen wir uns alle wie auf Verabredung in den ehemaligen Heckaufbauten. Eigentlich doch nicht zufällig: Hoch über uns und weit nach achtern versetzt, schwebt wie ein Fesselballon das Schlauchboot am Ankerseil. Bert und Kulle steigen als erste empor. Dann empfehle auch ich mich durch die „Halle mit den Blumenpergolen“. Die Strömung ist inzwischen fast abgeklungen - vielleicht ein Gezeitenstrom, der jetzt kurzzeitig zum Stillstand kommt, ehe das Wasser in die andere Richtung zurückzufließen beginnt. Der Druckmesser meines Tauchgeräts steht auf 30 bar. Das Messgerät hinkt um diesen Wert nach. Die Luft ist praktisch zu Ende. Ich tauche auf. Logbuchdaten: Sicht unter Wasser 10 Meter, Luft 24 Grad Celsius, Wasser 26 Grad Celsius, Tauchtiefe 15 Meter, Tauchzeit 72 Minuten.

Die Begeisterung über diesen Tauchgang lässt uns erstmals streiken. Nein, nicht weiter zur nächsten Insel. Wir wollen noch einmal zum Wrack! Nach dem fast zur Kaffeezeit verschlungenen Mittagessen startet Kulle mit beiden Damen einen Landgang. Mary unternimmt das übliche: Sie legt sich auf’s Ohr. Der Rest der Crew fährt wieder hinaus zum Wrack.

Die Sonne steht bedenklich tief am Horizont. Das Wrack ist in ein diffuses dämmeriges Licht gehüllt. Dunkle Schatten füllen alle Winkel. Es ist schon ein wenig gespenstig . . .  Dennoch bereue ich nicht den Verzicht auf die Ile de Mayero-Besichtigung und jage einen weiteren Film durch die Kamera, vor allem Fischporträts. Ohne Pilotlicht ist auf der Mattscheibe kaum noch eine Bildeinstellung zu beurteilen. Die meisten Fische sind zwischen 20 Zentimeter und 50 Zentimeter lang und lassen sich deshalb mit dem Weitwinkelobjektiv gut fotografieren. Logbuchdaten: Sicht unter Wasser 10 Meter, Luft 22 Grad Celsius, Wasser 26 Grad Celsius, Tauchtiefe 15 Meter, Tauchzeit 58 Minuten.

Am Montag, den 24. November, fahren wir ein drittes Mal hinaus zum Wrack. Die Sicht hat sich weiter verschlechtert. Das Blitzgerät stellt nach einem Dutzend Aufnahmen wegen erschöpfter Akkumulatoren seine Tätigkeit ein. Abschied nehmend streife ich kreuz und quer durch das tote Schiff, das doch so voller Leben ist. Sicht 10 Meter, Luft 22 Grad Celsius, Wasser 26 Grad Celsius, Tiefe 15 Meter, Tauchzeit 79 Minuten, protokolliert mein Logbuch!

Habe ich das Wichtigste beobachtet und fotografiert? Alle Zeit ist in das strenge Maß von Minuten geteilt und jede abgelaufene Minute für immer entschwunden. Nur die Fotos und die Niederschrift von Beobachtungen verleihen dem Flüchtigen allen Erlebens etwas Dauer. Freilich: ärmliche Surrogate! Aber doch besser als nichts?

Gegen halb elf hieven Bert und Kulle den Anker: einer am Hebel des Spills und der andere belastet mit dem Fuß die Kette, damit die Glieder leidlich fassen in dem leierigen Mechanismus. Die Italique dreht den Bug nach Norden. Es geht auf „Heimatkurs“! Ich sichere mir einen der beiden am Großmast festgezurrten Vorsegelsäcke. Darauf ausgebreitet - im Schatten des Focksegels - ist gut schlummern - und verträglicher das stundenlange auf und ab im Seegang.     nach oben

Wale!

Ein Schrei gellt über das Schiff. Alles rappelt sich aus nur irgend möglichen Lagen empor. Zu sehen ist - ist fast nichts! Einige schwarze Striche im blauen Wasser und in vielleicht 100 Meter Entfernung. „Da bläst wieder einer“, ruft Robert! Von einem der Tiere stiebt eine weiße säulenförmige Dunstwolke empor, der so genannte Blas. Immer wenn einer der großen Wale zum Atmen auftaucht, entlässt er vor dem Luftschöpfen aus seinen Spritzlöchern solch einen Dunststrahl. Die paarigen Spritzlöcher sind die „Nasenlöcher“ der Wale. Sie befinden sich auf der Oberseite des Kopfes und sind verschließbar, haben jedoch keine Verbindung zur Mundhöhle. Zwei innere „Lippen“ steuern das Ausströmen der Luft und die Modulation vom Spritzloch gebildeter Töne. Die Dunstwolke ist aber keine Wasserfontäne! Noch gibt es meines Wissens keine bewiesene Erklärung, warum man den Blas sehen kann. Jede Walart besitzt eine typische Form der Dunstwolke. Sachkundige wie erfahrene Walfänger  sehen an ihrer Ausbildung die Art, das Geschlecht und die ungefähre Größe des Tieres.

Wir erkennen natürlich nichts. Sicher ist nur: Pottwale sind es nicht. Diese großen Zahnwale versprühen als einzige Art aus nur einem funktionierenden  Spritzloch einen schräg nach vorn gerichteten Blas. Möglicherweise sind es die wärmeliebenden Brydewale. Diese bis 13 Meter oder 16 Meter lang werdenden Furchenwale leben in tropischen und subtropischen Meeren mit Temperaturen von mehr als 20 Grad Celsius. Die anderen großen Bartenwale, also die Planktonfresser unter den Walen, bevorzugen kältere Gewässer. Blau ist die Karibik und Blau ist - ein deutscher Ozeanograph prägte diesen treffenden Vergleich - die Wüstenfarbe des Meeres. Ich habe weiter vorn davon schon berichtet.

Die Bezeichnung „Furchenwale“ basiert auf der mit drei parallelen Längsfalten (Furchen) besetzten Kehle. Diese Falten erlauben eine überdurchschnittliche Erweiterung des Mundraumes, um größere Mengen planktonhaltigen Wassers einzunehmen. An Großtierfressern (die so genannten Zahnwale) unter den Walen der gesichteter Größe gäbe es nur Pottwale. Die aber - wie gesagt - sind es nicht. Rasch schrumpft das halbe Dutzend schwarzer Balken zu Strichen. Schließlich beherrschen nur noch Wellen, fliegende Fische und ferne Inseln das Panorama.

Der Wind steht ungünstig für das heute avisierte Ziel. Pierre merkt, dass wir es dadurch nicht mehr bis Saint Vincent schaffen. Ausgedehnte Kreuzmanöver würden zu viel Zeit kosten. Also wird Saint Vincent gestrichen. Neues Ziel: Saint Bequia. Schade. Wieder eine Insel weniger im Taucherlogbuch. Aber was soll’s? Ich rekele mich erneut wohlig und wohl rücksichtslos auf die Liegewünsche der anderen auf dem Segelsack und lasse die Gedanken treiben.     nach oben

Wir segeln

bis zum Anbruch der Nacht. Um halb acht serviert Mary Spagetti mit Tomatensoße und eine Flasche roten Tischwein. Die Gäste werden erstmals zum Abwasch gebeten. Mit verkniffenem Gesicht stellt sich Renate an die Spüle. Missstimmung über immer schlechter werdendes Essen und mangelnden Service kommt auf. Schließlich haben die Gäste ja eine Komfortreise auf einer Luxusjacht gebucht und dementsprechend teuer bezahlt. Ich ziehe mich in die Koje zurück. Meine Reisenotizen bedürfen dringend einer Aktualisierung . . .

Dienstag, 25. November. Eigentlich sollte es im Morgengrauen losgehen, also etwa um 4 Uhr. Vielleicht ließe sich doch noch ein Tauchgang arrangieren bei Saint Vincent? Leider sitzen wir um 8 Uhr immer noch am Frühstückstisch. Pierre hat gestern beim Einlaufen gespürt, dass an Propeller und Maschine etwas nicht stimmte. Eine denkbare Ursache: die linke der beiden achtern ausgelegten Angelleinen geriet bei einem Wendemanöver vor dem Hafen in den Propeller. Möglich, dass Nylonschlingen am Wellenschaft den Lauf behindern. Das bedeutet: als erstes ein Tauchgang unter der Jacht, um die Lage zu peilen.

Wohl kein Problem. Taucher befinden sich eigentlich genug an Bord. Aber alle starren aneinander vorbei und so trübe wie das um die Italique schwappende Hafenwasser. Alle erinnern sich gewiss an jene Berichte, dass manche Haiarten die Hafennähe bevorzugen, denn hier findet sich unter den über Bord geworfenen Abfällen immer allerlei Fressbares. Keiner von uns aber ist geneigt, das Frühstücksmahl zu sein. Aus verständlichen Gründen.

Ob wirklich oder nur eingebildete Gefahren - undurchsichtiges Wasser ist ohnehin jedem Taucher suspekt, ja unheimlich. Eine Sekunde, bevor die Stille von scheinbarem Nachdenken zur Peinlichkeit umschlägt, gebe ich mir den symbolischen Ruck. Moment, sage ich lässig, hole nur meinen Atemregler! Doch ehrlich gesagt, habe ich so viel Lust hier zu tauchen wie etwa ein Jaguar Appetit auf ein Bircher-Benner-Müsli.

Für die gewiss nur wenige Minuten dauernde Arbeit genügen Maske, Flossen und das Tauchgerät. Misstrauisch steige ich seitenschneiderbewaffnet in die laue Brühe. Sichtweite einen Meter. Pierres Verdacht erweist sich als Tatsache. Ein Nylondrahtverhau umwindet den Propellerschaft. Rasch sind die Schlingen durchgekniffen. Und natürlich verschmähen die Hafenhaie den diesmal sogar delikat - weil ohne zähe schwarze Gummipelle - angebotenen Morgenimbiss.     nach oben

Ich bin kaum an Bord

und zur Kaffeetasse zurück, entlädt sich der am Vorabend aufgestaute Sturm, vor allem über das Missverhältnis zwischen Angebotenem und Preis und andererseits der Realität. Gelassen nimmt Pierre Papier und Bleistift. Mit der Versicherung, dass die Charter durchaus angemessen sei, legt er seine Zahlen offen. Er bekäme so und so viel und stellt dafür den Skipper, das Boot mit all seinen Nebenkosten, die Verpflegung, Schlauchbootfahrten, Kompressorbetrieb und die Tauchgeräte. Als Pierre die von den Gästen gezahlten Summen hört, gerät nun auch er aus der Fassung. Sehr schnell wird klar: Pierre ist nicht der Großverdiener. Er trägt zwar Risiken und Mühen, den Hauptgewinn kassieren aber Reiseveranstalter und Schiffsmakler. Wie das eben so ist in dieser oder anderen Branchen. Staunend erfährt Pierre, dass die Gäste allein für das Tauchen praktisch zweimal löhnen, immerhin fast 1000 DM für drei Wochen Non-limit-Tauchen. Sie bezahlen indirekt bei ihm, denn er offeriert Tauchen als inklusive und zum anderen bei dem Reiseveranstalter. Fairerweise ist nachzutragen: Robert und Kulle bekommen später einen Teil des Reisepreises wieder zurück. Nur ich, später wieder tief im Osten Deutschlands sitzend, verzichte großzügigerweise auf die Reklamation. Was bleibt mir auch anderes übrig als Gelassenheit?

Es klärt sich also alles. Einen Rumpunsch drauf und den Anker auf. Ein frischer Ostwind bläht die Segel. Mit etwa zehn Stundenkilometer rauscht die Italique nach Norden. Robert stimmt Billy’s Vierzeiler aus der „Schatzinsel“ an:

Fünfzehn Mann auf des Toten Truh, / jo, ho, ho und ‘n Buddel voll Rum. / Versoffen und beim Deubel ist die ganze Crew, / jo, ho, ho und ‘n Buddel voll Rum!

Bert übersetzt, so weit das überhaupt nötig ist. Mary versteht und turnt hinab in den Kombüsenwinkel. Eiswürfel klirren. Eine Flasche weißen Rums gluckert. Mir fällt auch ein passendes Liedchen ein, aus der Hack’schen Version des „Der Frieden“. Es geht, wenn ich mich recht erinnere, so: „Und der Samos weht und die Planken glüh’n. Und so segeln sie vor’m Wind, vor’m Wind, vor’m guten Wind, bis sie besoffen sind. Jaaa!“

Und dann hat es sich auch schon ausgesegelt. Das halbe Dutzend Kilometer zwischen Bequia und Saint Vincent ist schnell zurückgelegt. Pierre steuert St. Vincent an auf der Leeseite, denn dort liegt ein gutes Tauchgebiet. Aber im Windschatten (Leeseite!) ist schlecht segeln. Den Jokel wieder an. Nach wenigen Minuten stellt auch er seine Tätigkeit ein. Getriebe- oder Lagerschaden, vermutet Pierre. Es lag also doch nicht nur an der verflixten Angelleine. Die Italique dümpelt hilflos auf den Wellen. Das wär’s dann also, denke ich, hoffentlich erreiche ich wenigstens in Fort-de-France noch meine Maschine . . .

Eine spanische Motorjacht erscheint wie gerufen. Wir schreien und winken aus Leibeskräften. Das Boot schleppt uns aus dem Windschatten von Saint Vincent. Während des gut einstündigen Manövers steht achtern auf der Motorjacht ein chinesischer Koch und poliert Edelstahltöpfe. Als Wind wieder die Segel füllt, löst Kulle und Robert die Schlepptrosse. Dankesworte, Grüße und eine Buddel wechseln von Bord zu Bord. Klar, dass Saint Vincent gestrichen wird und Pierre nun Martinique direkt - wenn auch mit vielen Kreuzmanövern - ansteuert. Wir segeln die ganze Nacht und erreichen am nächsten Morgen die Reede von Fort-de-France.

Mittwoch, 26. November. Es wurde die ganze Nacht durchgesegelt. Ankunft in Martinique gegen 8 Uhr. Wenig geschlafen. Zu warm, zu schaukelig und zu laut. Alle gehen an Land. Ich fahre erst zum Flugplatz, um zu hören, ob ich auch in Martinique zusteigen darf. Ich darf. Nachmittags Bummel durch die Hauptstadt Fort-de-France. Weitere Schwierigkeiten: der dem Skipper übergebene Scheck für die Charter lässt sich nicht einlösen. Absicht Schotts, weil er gerade nicht flüssig ist?     nach oben

Martinique

Das französische Überseedepartement Martinique ist mit 65 Kilometer Länge nach Trinidad die zweitgrößte Insel der Kleinen Antillen. Sie verdankt ihr Dasein vulkanischen Eruptionen, deren Wirken immer noch nicht verloschen ist. 1902, bei einem Ausbruch des Mont Pelé, zerstörten Glutwolken die gesamte damalige Hauptstadt St. Pierre. Sie töteten alle Einwohner bis auf einen Mann: Luis Cypris. Er saß während der Katastrophe nämlich gerade im Knast und das war eine unterirdische Gefängniszelle.

Martinique besitzt fruchtbare Böden und durch das feuchttropische Klima ausreichend Niederschläge. Die Landschaft blüht. Es gedeihen vor allem Bananen, Zuckerrohr, Ananas und Kaffee. Der Viehbestand ist groß. Uns kommt es vor, als sei man auf Martinique oder zumindest in seiner rund 100 000 Einwohner beherbergen Hauptstadt Fort-de-France, doch ein wenig wohlhabender als in den von Großbritannien beeinflussten Inseln. Die Leute sind schicker gekleidet, die Geschäfte besser ausgestattet. Armut ist weniger augenscheinlich als anderen Orts. Doch was erfährt man davon schon als Tourist?

Donnerstag, 27. November. Immer noch auf Martinique. Vormittags abermals Stadtbummel. Am Nachmittag segeln wir zu der 3 Stunden entfernten Baye de Salomon. Gegen 17 Uhr ein Tauchgang bis in 20 Meter Tiefe und von 45 Minuten Dauer. Die Sicht ist fantastisch und Motive im Nahbereich in Hülle und Fülle. Leider stellt sich heraus, dass die Blitzakkus nun leer sind.

Wir sitzen bis in die frühen Morgenstunden zusammen und klönen. Meine letzte Nacht auf der Italique. Ich opfere den sorgsam geheimgehaltenen Flachmann mit echt schottischem Whisky.

Freitag, 28. November. Ein abschließender Tauchgang. Die Sicht ist wie gestern, nämlich fantastisch. Meine Logbuchdaten: Sicht unter Wasser 25 Meter, Lufttemperatur 26 Grad Celsius, Wassertemperatur 25 Grad Celsius, Tauchtiefe 30 Meter, Tauchzeit 85 Minuten.     nach oben

Ein letztes Mal

streife ich also bis zu einer Tiefe von 30 Meter durch die dunkelblauen Schattenreiche der Karibik. Farbig erscheint uns ja die Unterwasserwelt allenfalls bis zu einem Dutzend Meter Tiefe. Weiter unten herrschen blaugrüne Töne vor. Bei dem Weg der Lichtstrahlen hinab absorbiert das Wasser zunehmend die roten, orangen und gelben Farbeindrücke hervorrufenden Anteile des Sonnenlichtes, In 30 Meter Tiefe ist dann alles nur noch blau oder grün oder dunkel.

Erst der Scheinwerfer oder die Blitzlampe enthüllt unserem Auge wieder die wahren Farben. Aber wie mögen die Tiere diese wahrnehmen? Die prachtvollen Färbungen der in den Korallenriffen lebenden Fische sind gewiss nicht bloß eine Laune des Zufalls. Luxus, also ein für das Dasein unnötiger Besitz und Aufwand, führt entwicklungsgeschichtlich immer in eine Sackgasse. Ich fürchte, wir Menschen bilden da keine Ausnahme!

In der Tierwelt jedoch hat ein herrliches Aussehen meist wichtige Funktionen. So haben die Biologen bereits eine stattliche Zahl von Bedeutungen herausgefunden: Die Farben und Muster helfen als deutliche Markierung bei der Arterkennung, der Revierabgrenzung und um etwa bei der Paarung nicht den Geschlechtspartner zu verwechseln. Jungfische fressen meist eine andere Nahrung als die Alten. Ein andersfarbiges Jugendkleid signalisiert nun unduldsamen Eltern: kein Nahrungskonkurrent, muss nicht vertrieben werden! Es kostet nur unnötige Energie. Ein flüchtiger Gedankensprung: Unsere Kinder werden sich doch nicht deshalb so schrill kleiden? Den Jungtieren wiederum erleichtert es das Überleben und Heranwachsen.

Manche Farbzeichnungen dienen durch Nachahmung der Umgebung der Tarnung. Auch fällt Rot in der Tiefe, in der es ja dunkel aussieht, am wenigsten auf. Grelle Farben und besonders Muster können warnen: Achtung, ich bin besonders aggressiv oder ungenießbar. An Augen erinnernde Flecken am Hinterende des Fisches sind Blickfänger. Sie erschweren dem Angreifer die Orientierung oder täuschen einen viel größeren Gegner vor. Bei bestimmten Schmetterlingsfischen wiederum werden über die Veränderung des Augenflecks dem Artgenossen Informationen übermittelt. Vieles zu diesem Thema ist noch unbekannt und die Frage nach dem „Warum“ und „Wozu“ muss sicher bei den meisten Arten stets auf das Neue gestellt werden.     nach oben

Abschied

Nach dem Mittagessen segeln wir zurück nach Fort-de-France. Während des dreistündigen Turns überlässt mir Pierre auch einmal das Ruder unter der Bedingung, dass ich weder Südamerika ansteuere noch Martinique auf dem Landweg zu überqueren versuche. Der direkte Kurs verwandelt sich in eine Zickzackfahrt. Alle lästern. Ich blicke ehern zum Horizont, als gelte es die Wiederentdeckung Amerikas. Schließlich gelingt eine so schwache Schlangenlinie, dass man fast von einer Geradeausfahrt sprechen könnte. Zur Kaffeezeit setzen wir uns noch einmal in die Hafenkneipe. In den frühen Abendstunden zeigt mir Pierre dann unter den zwei Dutzend Möglichkeiten die Haltestelle für den Airport passierende Sammeltaxis. Ich danke dem Skipper noch einmal auf das Herzlichste. It doesn’t matter. Au revoir! Ich lächele mühsam.

Pierre verschwindet im Towubabohu des Feierabendverkehrs. Ich fühle mich plötzlich - inmitten hunderter vergnügter, schwatzender und drängelnder Menschen - sehr allein. Die Aussonderung, die Isolierung, der Abschied hat begonnen.

Nach anderthalb Stunden gelingt die Erstürmung eines Taxis. Mit dem Fahrer zu acht - vorn drei, davon eine Person über der Handbremse, hinten drei und noch einmal dahinter auf den Notsitzen zwei Einheimische - rollt der Wagen, ein normaler Mittelklassekombi, durch die Stadt, über stille Vorortstraßen. Das Neonlicht des Flughafens taucht auf. Ich empfinde die Luft wie bei meiner Ankunft: warm und weich wie schwarzer Samt. Die technischen Laute des Flughafenbetriebs mischen sich mit dem Schrillen der Zikaden.

Ein letztes Bild von der Gangway. Vor den hellen Fenstern des Abfertigungsgebäudes die unverwechselbare Silhouette einer Palme. - Zehn Stunden später, bei einer Zwischenlandung in Lyon, wirbeln Schneeflocken vor den Fenstern der Maschine.

Resümee: 17 Tage, 250 Seemeilen durch die Inselwelt der Kleinen Antillen und 15 Tauchgänge. Eigentlich wenig! Doch Reisende finden in fremden Ländern immer nur Mosaiksteinchen, wenn auch unterschiedlicher Größe, Herkunft und Farbigkeit. Aber - tröstlicher Gedanke - ist dies irgendwann und irgendwo anders? Wir sind doch letztlich auf jedem beliebigen Punkt der Erde nur befristet zu Gast! 17 Tage Kleine Antillen. Momentaufnahmen. Wie wenig und doch auch wieder wie viel: wunderschöne tropische Inseln, freundliche Menschen und seltsame Tiere in dem bläulichen Dämmer des Karibischen Meeres.
 


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